Tz. 5

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Ausgestaltung dieses Revisionsgrundes als absolutem Revisionsgrund beruht auf dem verfassungsrechtlich verankerten (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) Verfahrensgrundrecht, dass der Einzelne Anspruch auf eine Entscheidung durch den sog. gesetzlichen Richter hat. Durch dieses Recht soll Manipulationen bei der Gerichtsbesetzung entgegengewirkt werden und damit zugleich die Unabhängigkeit der Gerichte gesichert werden. Zugleich soll das Vertrauen der Bevölkerung in Unparteilichkeit der Justiz gestärkt werden.

 

Tz. 6

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Das erkennende Gericht i. S. von § 119 Nr. 1 FGO ist der Spruchkörper (Senat) oder der Einzelrichter, der die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung durch den Senat gehören zum erkennenden Gericht die Berufsrichter und ehrenamtlichen Richter, die an der mündlichen Verhandlung und Beratung der Entscheidung teilgenommen haben. Werden mehrere mündliche Verhandlungen durchgeführt, ist zu unterscheiden: Grundsätzlich ist die Besetzung der letzten Verhandlung maßgeblich, wenn z. B. die Sache beim vorherigen Termin vertagt wurde (BFH v. 12.11.1993, VIII R 17/93, BFH/NV 1999, 721) oder die Beteiligten auf erneute mündliche Verhandlung verzichtet haben (BFH v. 12.05.2011, IX B 121/10, BFH/NV 2011, 1391). Dies gilt auch dann, wenn in einem vorherigen Termin eine Beweisaufnahme durchgeführt wurde (BFH v. 28.08.2010, IX B 41/10, BFH/NV 2010, 2239; BFH v. 13.01.2010, I B 83/09, BFH/NV 2010, 913 m. w. N.). Von der Vertagung ist die Unterbrechung zu unterscheiden; bei einer Unterbrechung ist der Termin (Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung) in der identischen Gerichtsbesetzung fortzuführen (auch s. § 103 Rz. 2; BFH v. 03.12.2010, V B 57/10, BFH/NV 2011, 615 m. w. N.). Entscheidet der Einzelrichter, ist ausschließlich dieser erkennendes Gericht, soweit nicht die Länder nach § 5 Abs. 4 FGO eine Beteiligung ehrenamtlicher Richter vorsehen. Bei Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung, ist die Besetzung maßgeblich, die an der Beratung teilgenommen und entschieden hat.

 

Tz. 7

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ob das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, bestimmt sich zunächst nach den gesetzlichen Vorschriften, insbes. der § 4 FGO mit den Bestimmungen des GVG. Erforderlich ist demnach, dass sich die Zuständigkeit des Spruchkörpers aus dem vom Präsidium aufzustellenden Geschäftsverteilungsplan des Gerichts ergibt (§ 21e GVG); ferner müssen die Richter den entsprechenden Spruchkörpern zugewiesen sein; dies gilt auch für die ehrenamtlichen Richter. Innerhalb der Spruchkörper ist die Geschäftsverteilung durch Beschluss aller dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter vorzunehmen (§ 21g GVG). Die Geschäftsverteilung muss die Zuständigkeit der Spruchköper bzw. derer Mitglieder nach abstrakten Merkmalen regeln.

 

Tz. 8

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Als Besetzungsfehler kommen demnach zunächst Verstöße gegen den Geschäftsverteilungsplan in Betracht, sofern sie sich als Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter darstellen; dies erfordert einen willkürlichen Verstoß; die Entscheidung muss sich so weit von dem gesetzlichen Richter entfernen, dass deren Aufrechterhaltung unter keinen Umständen mehr als vertretbar erscheint (BFH v. 13.01.2016, IX B 94/15, BFH/NV 2016, 581). Darüber hinaus lassen sich – beispielhaft – folgende Mängel nennen:

  • Unbestimmtheit der Geschäftsverteilungsregelungen
  • Änderung der Geschäftsverteilung während des Geschäftsjahrs, ohne dass ein sachlicher Grund für die Änderung vorliegt
  • Verstoß gegen das Abstraktionsprinzip bei der Umverteilung von anhängigen Verfahren (BFH v. 23.11.2011, IV B 30/10, BFH/NV 2012, 431)
  • Überbesetzung des Spruchkörpers, die nur dann anzunehmen ist, wenn zwei oder mehr personell unterschiedlich besetzte Spruchkörper innerhalb eines Senats entstehen können; beim BFH soll eine Überbesetzung hingegen zulässig sein (BFH v. 20.05.1994, VI R 105/92, BStBl II 1994, 836)
  • Mitwirkung eines Berufsrichters, dessen Ernennung unwirksam ist
  • Mitwirkung eines ehrenamtlichen Richters, bei dessen Wahl schwerwiegende Mängel vorlagen oder bei dessen Heranziehung von der von jedem Spruchkörper auszustellenden Liste abgewichen wurde
  • Mitwirkung eines Richters, der aus physischen oder psychischen Gründen nicht in der Lage ist, seine richterlichen Aufgaben wahrzunehmen; dazu gehört neben Erkrankungen auch der Fall, dass der Richter während der Verhandlung schläft (BFH v. 21.01.2015, XI B 88/14, BFH/NV 2015, 864) oder nicht von Beginn an an der mündlichen Verhandlung teilnimmt (BFH v. 17.06.2011, XI B 21–22/10, BFH/NV 2012, 46)
  • Nichtmitwirkung eines geschäftsplanmäßig zur Entscheidung berufenen Richters, obwohl es an einer Verhinderung fehlt; Verhinderung liegt z. B. vor bei Arbeitsunfähigkeit, Urlaub, anderweitiger Abwesenheit aus dienstlichen Gründen
  • Entscheidung durch den Einzelrichter, obwohl weder eine wirksame Übertragung des Rechtsstreits nach § 6 FGO erfolgt is...

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