Tz. 34

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Auslegung von Rechtsnormen, insbes. von Gesetzen, bedeutet Klarstellung ihres Sinngehalts, der in der Wortfassung oft nur unvollkommen zum Ausdruck kommt (Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 214), da der Gesetzgeber nicht umhinkommt, unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden. Ziel ist es, den objektiven Sinn einer Norm – den objektivierten Willen des Gesetzgebers – zu ermitteln (grundlegend BVerfG v. 20.05.1952, 1 BvL 3/51, 1 BvL 4/51, BVerfGE 1, 299; auch BVerfG v. 17.05.1960, 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60, BVerfGE 11, 126; BFH v. 05.03.2014, XI R 29/12, BFH/NV 2014, 1170; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 232 m. zahlreichen Nachweisen der BVerfG- und BFH-Rspr.). Jedoch bildet der mögliche Wortlaut die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (z. B. BVerfG v. 23.06.2010, 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09, BVerfGE 126, 170; BVerfG v. 01.11.2012, 2 BvR 1235/11, NJW 2013, 365; BFH v. 29.11.2012, IV R 37/10, BFH/NV 2013, 910). Neben die vier klassischen Auslegungsmethoden (s. Rz. 35 ff.) treten die verfassungskonforme Auslegung (s. Rz. 38) sowie die europarechtskonforme (unionsrechtskonforme) Auslegung (s. Rz. 40).

 

Tz. 35

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  • Die grammatische Auslegung fragt nach dem möglichen Wortsinn des Gesetzeswortlauts, d. h. dem Bedeutungsumfang der Gesetzesworte (Zippelius, Kapitel III § 8, S. 35). Sie bildet den Ausgangspunkt einer jeden Auslegung. Sie hat zu ermitteln, welcher Sinn nach dem Sprachgebrauch der Sprachgemeinschaft und nach der Sprachregelung des Gesetzgebers den Worten des Gesetzes zukommen kann (Zippelius, Kapitel III § 8, S. 35). Der mögliche Wortlaut bildet die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (z. B. BVerfG v. 23.06.2010, 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09, BVerfGE 126, 170; BVerfG v. 01.11.2012, 2 BvR 1235/11, NJW 2013, 365; BFH v. 29.11.2012, IV R 37/10, BFH/NV 2013, 910). Die Grenze des möglichen Wortsinns bildet damit die Grenze der Auslegung (BVerfG v. 20.10.1992, 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 224; Zippelius, Kapitel III § 8, S. 39). Eine Auslegung gegen den Wortlaut einer Norm soll gleichwohl nicht von vornherein ausgeschlossen sein, wenn andere Indizien deutlich belegen, dass ihr Sinn im Text unzureichend Ausdruck gefunden hat (BVerfG v. 27.01.1998, 1 BvL 22/93, BVerfGE 97, 186); sie kommt aber nur in Betracht, wenn die wortgetreue Gesetzesanwendung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde, das durch die beabsichtigte Auslegung zu vermeiden oder doch entscheidend zu mindern wäre, ohne andere Wertungswidersprüche hervorzurufen (BFH v. 11.06.2013, II R 4/12, BStBl II 2013, 742). Insbes. im Steuerrecht, das "aus dem Diktum des Gesetzgebers" lebt (BVerfG v. 24.01.1962, 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318), kann eine Auslegung gegen den Wortlaut nur die absolute Ausnahme bilden.
 

Tz. 36

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  • Die systematische Auslegung erschließt den Sinn der Norm aus ihrem Zusammenhang mit anderen Normen. Dies betrifft Sätze und Absätze innerhalb eines Paragraphen, diejenigen Normen, welche die auszulegende Norm umgeben, den Titel und das Kapitel des Gesetzes, in dem die Norm geregelt ist, darüber hinaus das gesamte Gesetz und schließlich auch andere Gesetze, einschließlich des GG. Eine einzelne Norm bildet immer den Teil eines Gesamtkontextes. Ausgehend von der Annahme, dass die Rechtsordnung ein sinnvolles Ganzes darstellt und auf innere Widerspruchsfreiheit angelegt ist (Drüen in Tipke/Lang, § 4 AO Rz. 269), ist die Norm nach Möglichkeit so auszulegen, dass sie sich widerspruchsfrei in den Kontext der höher- und gleichrangigen Normen einfügt (Zippelius, Kapitel III § 10, S. 40). So verstanden, stellen die verfassungskonforme Auslegung (s. Rz. 39) und die unionsrechtskonforme Auslegung (s. Rz. 41) Sonderfälle der systematischen Auslegung dar.
 

Tz. 37

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

  • Die teleologische Auslegung ermittelt den Inhalt der Norm anhand des Gesetzeszwecks. Maßgeblich ist der mit der Norm verfolgte Sinn und Zweck, wie er in Wortlaut und Systematik des Gesetzes zum Ausdruck kommt (Drüen in Tipke/Lang, § 4 AO Rz. 274 m. w. N.). Steuergesetze werden erlassen, um Steuern zu erheben, sodass ihr grundsätzlicher Zweck die Einnahmenerzielung darstellt (s. § 3 AO Rz. 31). Allerdings erschöpft sich der Sinn und Zweck einer steuerrechtlichen Norm vielfach nicht in diesem Fiskalzweck, sondern dieser kann als Nebenzweck mit außerfiskalischen Lenkungszwecken verknüpft sein (s. § 3 AO Rz. 33). Bei reinen Fiskalzwecknormen dürfte der Erkenntnisgewinn aufgrund teleologischer Auslegung in aller Regel gering sein. Dies gilt insbes. dann, wenn die Auslegung im Zusammenhang mit einer verfassungsrechtlichen Überprüfung des Steuergesetzes einhergeht. Denn der reine Fiskalzweck wird bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Steuergesetzen anhand von Art. 3 Abs. 1 GG nicht als besonderer sachlicher Grund für Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung und Konkretisierung steuergesetzlicher Belastungs...

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