1. Glaubhaftmachung der Wahrung der Einspruchsfrist

Wird im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags geltend gemacht, der Bevollmächtigte habe ein Einspruchsschreiben an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit selbst in einen bestimmten Briefkasten eingeworfen, genügt zur Glaubhaftmachung nicht allein dessen eidesstattliche Versicherung, vielmehr kann das FA zusätzliche objektive Beweismittel verlangen (BFH v. 4.5.2021 – VIII B 121/20, BFH v. 4.5.2021 – VIII B 121/10, BFH/NV 2021, 1329). Denn es kann erforderlich sein, dass zu der Erklärung objektive Beweismittel – vor allem die Eintragung der Frist im Fristenkontrollbuch und deren Löschung aufgrund der Eintragung im Postausgangsbuch – hinzutreten müssen. Gleiches gilt für die anwaltliche Versicherung, die Sendung selbst eingeworfen zu haben.

2. Schuldhaftes Verhalten

Ein Steuerpflichtiger versäumt schuldhaft i.S.v. § 110 AO die Einspruchsfrist, wenn er keinen Vertreter mit der Vornahme fristwahrender Handlungen bestellt und die Berechnung der Einspruchsfrist sowie die Bescheidüberprüfung auf als Hilfspersonen agierende Konzernunternehmen übertragen hat, von denen er nicht über den Ablauf der Einspruchsfrist informiert worden ist, wenn er keine organisatorischen Maßnahmen zur Vermeidung von Fristversäumnissen ergriffen hat (FG München v. 13.3.2019 – 7 K 484/17, EFG 2019, 846).

3. Organisationsverschulden des Vertreters

Ein Rechtsanwalt ist verpflichtet, Umschläge über ihm förmlich zugestellte Schriftstücke systematisch zur Kenntnis zu nehmen, aufzubewahren und zur Handakte zu nehmen. Dies gilt auch bei grundsätzlich elektronischer Aktenführung. Da es zu den originären Aufgaben eines Berufsträgers als Prozessbevollmächtigter gehört, bei der Bearbeitung der Sache eigenständig den Ablauf der Rechtsbehelfsfrist zu prüfen, darf sich ein Prozessbevollmächtigter nicht auf den Eingangsstempel seiner Kanzlei verlassen, sondern hat eigenständig zu prüfen, ob das dort angegebene Datum mit dem von dem Postbediensteten auf dem Zustellungsumschlag eingetragenen Zustellungsdatum übereinstimmt.

Im Streitfall traf den Klägervertreter auch insofern ein Organisationsverschulden, als er nicht organisatorisch sichergestellt hatte, dass er die Umschläge eingehender Post systematisch zur Kenntnis bekam. Die vorstehend skizzierten Pflichten gelten auch dann, wenn der Bevollmächtigte altersbedingt nur noch "nebenbei" Mandate betreut (FG Rh.-Pf. v. 7.5.2021 – 4 K 1932/20, EFG 2022, 81).

Das FG Köln hat mit Urteil v. 23.2.2023 – (FG Köln, Urt. v. 23.2.2023 – 11 K 378/22 klargestellt, dass es für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO im Rahmen einer ordnungsgemäßen Büroorganisation eine Ausgangskontrolle erforderlich ist, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass alle erfassten Fristen erst dann gelöscht werden, wenn die fristwahrende Maßnahme tatsächlich vorgenommen wurde. Außerdem gehört zu einer effektiven Ausgangskontrolle die Anordnung des Prozessbevollmächtigten, dass die Erledigung von fristgebundenen Angelegenheiten am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders von einer dazu beauftragten Bürokraft überprüft wird ("allabendliche Fristen- oder Ausgangskontrolle").

4. Fehlverhalten des FA

Für die Behörden besteht grundsätzlich die Verpflichtung, leicht und einwandfrei als fehlgeleitete fristwahrende Einspruchsschreiben erkennbare Schriftstücke im Zuge des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Behörde weiterzuleiten; hat die unzuständige Behörde die Übermittlung schuldhaft verzögert oder überhaupt unterlassen, kommt im Falle willkürlichen, offenkundig nachlässigen und nachgewiesenen Fehlverhaltens der Behörde die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht.

Hat der Bevollmächtigte einen Einspruch beim "falschen" FA eingelegt, ist dieses FA in dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass ein fristgebundener Schriftsatz irrtümlich eingereicht wurde, nicht zuletzt im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung der Kommunikation zwischen den Bürgern, Behörden und Gerichten verpflichtet, unter Einsatz zeitgemäßer Kommunikationsmittel dafür Sorge zu tragen, dass eine möglicherweise noch laufende Frist eingehalten werden kann. Hierzu muss entweder der Rechtsbehelfsführer bzw. dessen Vertreter umgehend, d.h. in dem Zeitpunkt, in dem das Versehen bekannt wird, telefonisch, per Fax oder per E-Mail darauf hingewiesen werden, dass er einen fristgebundenen Schriftsatz bei der falschen Behörde eingereicht hat, um diesem Gelegenheit zu geben, den Fehler – soweit noch möglich – selbst zu korrigieren, oder aber das Einspruchsschreiben muss umgehend per Fax, eingescannt als E-Mail oder über das besondere elektronische Behördenpostfach (BeBPo) an das "richtige" FA weitergeleitet werden.

Entsprechend hat das FG Sachsen-Anhalt entschieden, dass dann, wenn der innerhalb der Einspruchsfrist beim "falschen" FA eingelegte Einspruch auf dem Postweg an das zutreffende Finanzamt weitergeschickt wird und dort erst nach Fristablauf ankommt, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, sofern die übrigen Voraussetzungen des § 110 AO erfüllt sind...

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