Leitsatz

1. Aus den im Steuerrecht allgemein geltenden Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes ergibt sich, dass die Steuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung nicht versagt werden darf, wenn der liefernde Unternehmer die Fälschung des Ausfuhrnachweises, den der Abnehmer ihm vorlegt, auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht hat erkennen können (Änderung der Rechtsprechung; Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 21.02.2008, Rs. C-271/06, Netto Supermarkt GmbH & Co.KG (BFH/NV Beilage 2008, 199).

2. Ob die Voraussetzungen hierfür gegeben sind, ist im Erlassverfahren zu prüfen.

 

Normenkette

§ 4 Nr. 1, § 6 Abs. 1, § 6 Abs. 4, § 6a Abs. 4 UStG 1993, § 227, § 163 AO, Art. 15 der 6. EG-RL

 

Sachverhalt

Die Klägerin betrieb an der polnischen Grenze den "Netto-Supermarkt". Erhebliche Zuwächse bei den Ausfuhrlieferungen in den Jahren 1993 bis 1998 waren darauf zurückzuführen, dass ein erheblicher Teil der Ausfuhrnachweise von polnischen Staatsbürgern nachgefertigt bzw. mit einem falschen Zollstempel versehen worden waren. Die Klägerin begehrte unter Hinweis darauf, das HZA habe den Stempel bei der ersten Nachfrage im August 1998 zunächst für echt gehalten und die Fälschung erst kurz später entlarvt, Erlass der nachgeforderten Steuer.

 

Entscheidung

Der BFH wies die Sache an das FG (FG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 01.10.2002, 2 K 375/00, Haufe-Index 912199) zurück, das keine Feststellungen getroffen hatte, ob der Unternehmer alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hatte.

 

Hinweis

1. Im Urteil "Netto-Supermarkt" (EuGH, Urteil vom 21.02.2008, Rs. C-271/06, Netto-Supermarkt, BFH/NV Beilage 2008, 199, BFH/PR 2008, 212) hat der EuGH entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht einem Billigkeitserlass nicht entgegenstehe, wenn zwar die Voraussetzungen für eine derartige Befreiung nicht vorliegen, der Steuerpflichtige dies aber auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns infolge der Fälschung des vom Abnehmer vorgelegten Nachweises der Ausfuhr nicht erkennen konnte.

2. Das Ziel, der Steuerhinterziehung vorzubeugen, rechtfertigt zwar Regelungen der Mitgliedstaaten mit hohen Anforderungen an die Verpflichtungen der Lieferer. Dabei müssen aber die allgemeinen – (auch) gemeinschaftsrechtlichen – Rechtsgrundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes beachtet werden. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Lieferer letztlich "Steuereinnehmer für Rechnung des Staats" sind und im Interesse der Staatskasse handeln. Die Verteilung des Risikos zwischen Unternehmer und der Finanzverwaltung aufgrund eines von einem Dritten begangenen Betrugs muss mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein.

3.Hat der Lieferer die Beleg- und Buchnachweise erbracht, deren Vorlage der Mitgliedstaat nach seinen entsprechenden Regelungen zum Nachweis der Voraussetzungen für die Ausfuhrlieferung verlangt, darf er auf die Rechtmäßigkeit seines Umsatzes vertrauen, wenn er alle zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um die Beteiligung an einer Steuerhinterziehung zu vermeiden. Ob er insoweit die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns beachtet hat, haben die nationalen Gerichte zu prüfen.

4. Die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sind Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Fehlt – wie bei der Ausfuhrlieferung im Gegensatz zur innergemeinschaftlichen Lieferung – eine materiellrechtliche Regelung zum Vertrauensschutz, sind Vertrauensschutzgesichtspunkte nach Maßgabe der allgemeinen abgabenrechtlichen Regelungen zu berücksichtigen. Die AO enthält zwar eine Reihe von Regelungen zum Verhältnis Steuerpflichtiger/FA (§§ 172 ff.). Darüber hinaus eröffnen die §§ 163, 227 AO verfahrensrechtlich die Möglichkeit, außergewöhnliche Umstände eines Einzelfalls zu berücksichtigen. Liegen die zuvor unter 3. beschriebenen Voraussetzungen vor, ist das Verwaltungsermessen hinsichtlich der Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme auf null reduziert.

5. Beruft sich der Steuerpflichtige bereits im Festsetzungsverfahren auf Vertrauensschutz (§ 163 AO), ist es, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, ermessensfehlerhaft, diese Entscheidung nicht mit der Steuerfestsetzung zu verbinden.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 30.07.2008 – V R 7/03

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