Leitsatz

1. Die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt kann grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen ist oder der Grad der Behinderung 50 % oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts ausgeschlossen erscheint (Anschluss an BFH-Urteil vom 26.7.2001, VI R 56/98, BStBl II 2001, 832).

2. Für ein behindertes Kind, dessen Einkünfte und Bezüge – nach Abzug des behinderungsbedingten Mehrbedarfs – den Jahresgrenzbetrag nicht übersteigen, kann Kindergeld nicht mit der Begründung versagt werden, die Behinderung stehe einer normalen Berufsausbildung nicht im Weg.

 

Normenkette

§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG , § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG

 

Sachverhalt

Der 1978 geborene Sohn (S) des Klägers ist behindert. Der Grad der Behinderung beträgt 50 %. Im Schwerbehindertenausweis des S ist u.a. das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen.

Nach Erlangung der Fachoberschulreife befand sich S zunächst in einem Ausbildungsverhältnis als Tischler; anschließend war S als Hilfsarbeiter bei der Firma X tätig und dort ab Januar 1998 in einem Ausbildungsverhältnis. Die Bruttoarbeitslöhne des S beliefen sich im Kalenderjahr 1997 auf 16 574 DM und in 1998 auf 21 475 DM.

Die Familienkasse versagte Kindergeld für S. Sie vertrat die Ansicht, S habe Einkünfte in Höhe von 14 574 DM (1997) und 17 347 DM (1998) erzielt; damit seien die maßgeblichen Jahresgrenzbeträge in Höhe von 12 000 (1997) und 12 360 (1998) überschritten. S sei im Übrigen für einen Beruf ausgebildet worden und daher in der Lage, durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensbedarf zu bestreiten.

Die Klage hatte Erfolg.

 

Entscheidung

Der BFH bestätigte die Vorentscheidung. Von den Einkünften des S in der oben angeführten Höhe müsse der Behinderten-Pauschbetrag in Höhe von 7 200 DM als behinderungsbedingter Mehrbedarf abgezogen werden. Demnach seien die maßgeblichen Jahresgrenzbeträge unterschritten. Auf Grund dieser – nunmehr eindeutigen – Rechtslage sei die Durchführung eines Revisionsverfahrens nicht mehr geboten.

 

Hinweis

1. Beschlüsse über Nichtzulassungsbeschwerden werden nur gelegentlich (in amtlichen Sammlungen) bekannt gegeben. Auf Wunsch der Finanzverwaltung wurde der vorliegende BFH-Beschluss jedoch nachträglich wegen seiner Bedeutung über den Einzelfall hinaus veröffentlicht.

2. Der BFH hat in der Besprechungsentscheidung nochmals klargestellt, unter welchen Voraussetzungen ein behindertes Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Unter Bezugnahme auf seine Grundsatzentscheidungen vom 15.10. 1999, VI R 183/97, BStBl II 2000, 72; VI R 40/98, BStBl II 2000, 75; VI R 182/98, BStBl II 2000, 79 hat der BFH dargelegt, dass ein behindertes Kind – positiv ausgedrückt – erst dann imstande ist, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung des gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht.

Dabei sind zwei Bezugsgrößen zu vergleichen, und zwar der gesamte Lebensbedarf einerseits und die finanziellen Mittel des Kindes andererseits.

Erst wenn sich hieraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert. Der gesamte existenzielle Lebensbedarf setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf in Höhe von 12 000 DM für 1997 und 12 360 DM für 1998) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.

Reichen die finanziellen Mittel des Kindes nicht aus (Unterdeckung), um diesen Gesamtbedarf zu decken, besteht ein Kindergeldanspruch der Eltern.

3. Der BFH hat im Streitfall nochmals – unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 26.7.2001, VI R 56/98, BFH-PR 2002, 9 – seine Auffassung bekräftigt, dass die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt grundsätzlich unter den im Leitsatz 1 angeführten Voraussetzungen zu bejahen ist.

4. Von diesen Ausgangspunkten aus musste im Streitfall die – noch stark vom Sozialrecht geprägte – Argumentation der Familienkasse dahingehend scheitern, das behinderte Kind sei in der Lage, durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten bzw. die Behinderung stehe einer "normalen" Berufsausbildung nicht im Weg.

Dabei wurde insbesondere nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen Kindergeld zusteht, für jede Alternative (hier: a) Kind in Berufsausbildung – § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2a EStG, b) behindertes Kind – § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG) nach den jeweiligen Tatbestandsmerkmalen (gesondert) zu beurteilen ist.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 14.12.2001, VI B 178/01BFH, Beschluss vom 14.12.2001, VI R 178/01

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