Sachverhalts-Offenbarungspflicht durch den Steuerpflichtigen: Grundsätzlich ist der Steuerpflichtige darin frei, eine von der Rechtsprechung und/oder herrschenden Verwaltungsauffassung abweichende Meinung zu vertreten (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 153 AO Rz. 11 [Oktober 2016]). Jedoch besteht nach der Rspr. des BGH zumindest eine Offenbarungspflicht für diejenigen Sachverhaltselemente, deren rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft ist (BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137, unter Berufung auf BGH v. 8.8.1985 – 2 Ars 223/85, NJW 1986, 143; v. 15.11.1994 – 5 StR 237/94, wistra 1995, 69). Dies ist nach Auffassung des BGH insb. dann der Fall, wenn die von dem Steuerpflichtigen vertretene Auffassung über die Auslegung von Rechtsbegriffen oder die Subsumtion bestimmter Tatsachen von der Rechtsprechung, Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis abweicht (BGH v. 19.12.1990 – 3 StR 90/90, NStZ 1991, 240; v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137; Wulf in FS Streck, 2011, S. 627). Der Steuerpflichtige darf der Finanzbehörde keine Tatsachen verschweigen, die nach dem Empfängerhorizont der Finanzbehörde entscheidungserheblich sind. Maßgeblicher Empfängerhorizont der Finanzbehörde ist nach unserer Auffassung nur die Verwaltungsauffassung, die in Verwaltungsvorschriften und im Bundessteuerblatt[1] veröffentlicht wird, also die nach außen dokumentierte Verwaltungsauffassung.[2]

Für die Frage, ob eine Erklärung nach diesen Maßstäben (un)richtig ist, kommt es auf den Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung an. Eine einmal abgegebene Erklärung wird nicht dadurch unrichtig, dass sich die Rechtsprechung bzw. Verwaltungsauffassung nachträglich ändert (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 153 AO Rz. 11 [Okt. 2016]; FG Berlin v. 11.3.1998 – 6 K 6305/93, EFG 1998, 1166; FG München v. 6.9.2006 – 1 K 55/06, EFG 2007, 161; nach Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 153 AO Rz. 9 [April 2014] entsteht bei Rspr.-Änderung nach Erklärungsabgabe zumindest keine Berichtigungspflicht). Es ist also auf den Stand der Rechtsprechung und die veröffentliche Verwaltungsauffassung zum Zeitpunkt der Abgabe der (Steuer-)Erklärung abzustellen. Unrichtig ist die Erklärung nur dann, wenn sie von dieser Rechtsauffassung abweicht und nicht alle insoweit relevanten Tatsachen enthält, damit die Finanzbehörde in die Position versetzt wird, eine eigene Beurteilung der Rechtslage vorzunehmen und ggf. die Steuer abweichend von der eingereichten Erklärung festzusetzen.

Beraterhinweis Mit dem BMF-Schreiben vom 10.5.2022 gibt es eine Verwaltungsauffassung zur steuerlichen Behandlung von Gewinnen im Zusammenhang mit virtuellen Währungen und sonstigen Token. Die darin enthaltenen Grundsätze sind der Empfängerhorizont der Finanzverwaltung. Eine nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung im BStBl. I abgegebene Steuererklärung, in der von diesen Grundsätzen abgewichen wird, ohne dass dies kenntlich gemacht wird, ist unrichtig; führt sie zu einer zu niedrigen Steuerfestsetzung, ist der objektive Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO verwirklicht.

[1] Teil I und Teil II, also auch BFH-Entscheidungen, die die Finanzverwaltungen sich zu eigen macht.
[2] H.M., z.B. Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 370 AO Rz. 50 [Mai 2022]; Seer/Krumm, DStR 2013, 1814, 1816; Sontheimer, DStR 2014, 357, 358; Ob darüber hinaus eine Mitteilungspflicht in allen Fällen besteht, in denen der Steuerpflichtige eine abweichende Rechtsansicht der Finanzverwaltung auch nur für möglich hält, hat der BGH ausdrücklich offengelassen (BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137). In der Literatur wird eine derart weitreichende Offenbarungspflicht zu Recht ganz überwiegend abgelehnt, vgl. Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 370 AO Rz. 179 ff.; Peters in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO Rz. 205 f. [Juli 2019]; Hoyer in Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 60 [Februar 2022]; Sontheimer, DStR 2014, 357, 358; Seer/Krumm, DStR 2013, 1814, 1816; Wulf in FS Streck, 2011, S. 627, 640 f.

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