Rz. 20

Die Finanzbehörden sind vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts regelmäßig bereits nach § 91 Abs. 1 S. 1 AO zur Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet (vgl. Rz. 5). Der rein deklaratorische § 91 Abs. 1 S. 2 AO hebt beispielhaft einen typischen Anhörungsfall hervor. Danach ist "insbesondere" anzuhören, wenn von dem in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt zuungunsten des Stpfl. wesentlich abgewichen werden soll. Umstritten ist, was das Gesetz unter einer wesentlichen Abweichung versteht. Einerseits wird der Standpunkt vertreten, dass hierunter jede möglicherweise entscheidungserhebliche Abweichung vom erklärten Sachverhalt zum Nachteil des Stpfl. fällt. Eine rechtlich erhebliche Abweichung genüge. Die Wesentlichkeit richte sich weder nach einer absoluten Zahl noch einer relativen Größe.[1] Nach anderer – m. E. zutreffender – Auffassung löst nicht jede Erhöhung der Steuer eine Anhörungspflicht aus. Bei nur geringfügigen Abweichungen kann eine Anhörung unterbleiben.[2] Sind die steuerlichen Auswirkungen der Abweichung nur gering, so reicht es aus, die Abweichung ohne vorherige Anhörung im Steuerbescheid zu erläutern (so auch AEAO, zu § 91 Nr. 1). Die ausreichend und nachvollziehbar begründete Abweichung ersetzt in solchen Fällen die vorherige Anhörung. Diese "Kompromisslösung" begegnet unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gewissen Bedenken, dürfte letztlich aber noch hinnehmbar sein.[3] Außerdem würde ein anderes Normverständnis dem Arbeitsalltag in den Finanzämtern nicht gerecht. Die Verwaltung wäre mit dem zur Verfügung stehenden Personal schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage, das steuerliche Massenverfahren zu bewältigen. Betrifft die Abweichung einen in die Zukunft wirkenden Dauersachverhalt, so dürfte regelmäßig eine wesentliche Abweichung vorliegen.[4]

 

Rz. 21

Wann eine Abweichung noch als geringfügig anzusehen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls und entzieht sich einer festen Grenzziehung.[5] Absolute Größen wären im Rahmen der Ermessensausübung zwar hilfreich, gemessen an der steuerlichen Leistungsfähigkeit aber oftmals ungerecht. Mit der Ablösung der Belegvorlage- durch die Beleghaltepflicht[6] ist es dem FA verwehrt, bei Nichteinreichung eines dazugehörenden Belegs unmittelbar vom Nichtvorliegen des für den Stpfl. günstigen Sachverhalts auszugehen. Sinn der Belegvorhaltepflicht ist es gerade, diese im Fall der Prüfung durch das FA auf Anforderung vorzulegen. Hierzu muss es aber eine entsprechende Aufforderung des FA geben. Dies dürfte unabhängig von der steuerlichen Auswirkung des zu überprüfenden Sachverhalts gelten.

[1] Söhn, in HHSp, AO/FGO, § 91 AO Rz. 142; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 91 AO Rz. 5.
[2] Wagner, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 91 AO Rz. 5; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2021, § 91 Rz. 9; Koenig/Hahlweg, AO, 4. Aufl. 2021, § 91 Rz. 27; Helsper, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 91 AO Rz. 4; differenzierend Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 19.
[3] Carl/Klos, INF 1995, 417.
[4] Roser, in Gosch, AO/FGO, § 91 AO Rz. 19; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 91 Rz. 9.
[5] Koenig/Hahlweg, AO, 4. Aufl. 2021, § 91 Rz. 27.
[6] Vgl. § 50 Abs. 8 Satz 2 und 68b EStDV i. d. F. des G. zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016, BGBl I 2016, 1679.

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