Rz. 9

§ 85 S. 1 AO formuliert die fundamentalen Besteuerungsgrundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit des Besteuerungsverfahrens. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung leitet sich aus dem allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzip der Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht und damit aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ab.[1] Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes.[2] In seiner Absolutheit verpflichtet der § 85 S. 2 AO die Finanzbehörden zu etwas Unmöglichem, wenn er aufgibt sicherzustellen, dass keine Steuern verkürzt werden. Hierbei ist dem Erklärenden in den seltensten Fällen Absicht bei unzutreffenden Erklärungen zu unterstellen, da mit Blick auf das stetig komplizierter werdende Steuerrecht eher von fehlender Kenntnis beim Erklärenden auszugehen ist. Nach zutreffender Lesart enthält der Satz 2 das Gebot, in struktureller Hinsicht Maßnahmen zu ergreifen, um Fehler in unzutreffenden Erklärungen erkennen zu können, und die Aufdeckung bisher unbekannter Steuerfällen zu ermöglichen.[3] Da es im Besteuerungsverfahren am Ende um die Generierung von Haushaltseinnahmen geht, sind die dem gesetzmäßigen Steuervollzug zwangsläufig entgegen stehenden Plausibilierungs- und Risikomanagementüberlegungen[4], die gerade verhindern sollen, dass der wirkliche Steuersachverhalt aufgedeckt wird, zulässig, wenn anderenfalls das Besteuerungsverfahren nicht wirtschaftlich betrieben werden kann. Allerdings stehen derartige Maßnahmen unter dem Vorbehalt, dass sie in vergleichbaren Konstellationen einheitlich betrieben werden. Insoweit einheitliche Anwendung durch technische Vorkehrungen (z. B. Prüfhinweise im Veranlagungsgang) sichergestellt wird, bestehen hiergegen keine Bedenken. Anders sähe es jedoch aus, wenn pauschalierende Überlegungen individuell am Einzelfall festgemacht werden oder gar Amtsträger, die auf die Einheitlichkeit pauschalierender Überlegungen achteten, gar nicht vorhanden wären. Vor diesem Hintergrund begegnet das Amtsveranlagungsverfahren[5] für im Ausland lebende Bezieher von Altersbezügen erheblichen Bedenken, da dort auf entsprechenden Antrag hin allein die elektronisch nach Maßgabe des § 93c AO übermittelten Daten bezüglich der Altersbezüge zugrunde gelegt werden, ohne Angaben zu anderen, insbesondere steuermindernden Umständen abzufordern. Vergleichbares gilt für die Betriebsprüfungspraxis, wenn z. B. durch eine sehr differierende personelle Ausstattung systematisch eine regional unterschiedliche Prüfungsintensität in quantitativer und/ oder qualitativer Hinsicht entfaltet werden würde.[6]

[3] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 85 AO Rz. 4.
[6] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 85 AO Rz. 4.

3.1 Gesetzmäßigkeit der Besteuerung

 

Rz. 10

Gesetz ist jede verfassungsmäßige Rechtsnorm.[1] Verfassungswidrige Gesetze stehen außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung und entfalten deshalb keine Bindungswirkung. Rechtsnormen sind nach allgemeinem Verständnis insbesondere formelle Gesetze und Verordnungen.[2] Nicht hierzu zählen allgemeine Verwaltungsvorschriften (z. B. Richtlinien, Erlasse). Derartige Anweisungen haben die Finanzbehörden im Besteuerungsverfahren aber u. U. nach dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zu beachten.[3] Im Steuerrecht abweichend getroffene gesetzliche Grundentscheidungen, wie z. B. in § 39 AO als Abweichung vom sachenrechtlichen Zuordnungsprinzip oder vom HGB abweichende Gewinnermittlungs- und Bilanzierungsvorgaben, wie z. B. das Abzugsverbot des § 4 Abs. 5 EStG oder die Rückstellungsregeln des § 5 EStG, müssen dementsprechend Ihren Niederschlag ebenfalls im Gesetz finden. Nicht unkritisch zu betrachten in diesem Zusammenhang sind demnach untergesetzlich geregelte Nichtanwendungsregeln, wie z. B. Nichtbeanstandungserlasse der Verwaltung, die die teilweise oder gar die vollständige Nichtanwendung geltender Gesetze zur Minimierung des Verwaltungsaufwands aufseiten des Stpfl. und der Finanzbehörden zum Gegenstand haben.

 

Rz. 11

Die Finanzbehörden "haben" die Steuern nach Maßgabe der Gesetze festzusetzen und zu erheben. Daraus folgt, dass die Finanzbehörden nicht nur berechtigt, sondern vielmehr verpflichtet sind, entstandene Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis[4] geltend zu machen.[5] Es gilt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das Legalitätsprinzip.[6] Hiervon geht auch das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Besteuerung von Zinsen[7] sowie von Spekulationsgeschäften[8] aus. Die Festsetzung und Erhebung von Steuern liegen grds. nicht im Ermessen der Finanzbehörden. Zweckmäßigkeitserwägungen sind generell irrelevant.[9] Die Steuergesetze sind nicht nur Schranke, sondern zugleich auch Antrieb des Verwaltungshandelns.[10]

In umgekehrter Hinsicht gebietet der Gesetzmäßigkeitsgrundsatz zugleich, dass außer Kraft getretene oder vom BVerfG für verfassungswidrig...

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