1.6.1 Verhältnis zu § 41 Abs. 2 AO

 

Rz. 18

§ 41 Abs. 2 S. 1 AO und § 42 AO stehen im Verhältnis der Alternativität. Für den Austausch einer unangemessenen rechtlichen Gestaltung durch eine den wirtschaftlichen Vorgängen angemessene Gestaltung besteht nur in den Fällen Raum und Anlass, in denen die von dem Stpfl. gewählte Gestaltung anderenfalls der Besteuerung zugrunde zu legen wäre. Diese Voraussetzung ist bei Scheingeschäften nicht erfüllt, weil diese nach § 41 Abs. 2 S. 1 AO für die Besteuerung unerheblich sind.[1] Der Umstand, dass § 41 Abs. 2 AO und § 42 AO vom BFH häufig in einem Atemzug genannt werden[2], ändert nichts daran, dass sich ihre Anwendungsbereiche aus logischen Gründen gegenseitig ausschließen. Allenfalls dann, wenn sich der Scheincharakter eines Rechtsgeschäfts nicht nachweisen lässt, kann sich die Frage stellen, ob die mutmaßlich zum Schein getroffene Vereinbarung – ihre Ernstlichkeit unterstellt – als Gestaltungsmissbrauch anzusehen ist.

In den Fällen des § 41 Abs. 2 S. 2 AO, in denen das von dem Scheingeschäft verdeckte Rechtsgeschäft für die Besteuerung maßgeblich ist, ergeben sich für die Anwendung des § 42 AO keine Besonderheiten. Allerdings dürfte der Fall, dass die Parteien ein zur Umgehung des Steuergesetzes bestimmtes Rechtsgeschäft durch ein Scheingeschäft verdecken, praktisch kaum vorstellbar sein.

[1] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rz. 40; Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 43.

1.6.2 Verhältnis zum Unionsrecht

1.6.2.1 Verhältnis zum primären Unionsrecht

 

Rz. 19

Auch in den nicht harmonisierten Bereichen des Steuerrechts sind bei Anwendung des § 42 AO auf grenzüberschreitende Gestaltungen unter Beteiligung von Mitgliedstaaten der EU oder Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) v. 2.5.1992[1] die durch den AEUV bzw. das EWR-Abkommen gewährleisteten Grundfreiheiten zu beachten.[2] Dies gilt insbesondere für die Niederlassungsfreiheit[3], die Dienstleistungsfreiheit[4] und die Kapitalverkehrsfreiheit.[5]

Nach der Rspr. des EuGH stellen steuerrechtliche Regelungen der Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten, die geeignet sind, die Ausübung dieser Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu gestalten, eine Beschränkung dieser Grundfreiheiten dar, die nur zulässig ist, wenn sie ein mit dem Europäischen Recht zu vereinbarendes Ziel verfolgt und durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.[6]

Als zwingenden Grund des Allgemeininteresses erkennt der EuGH die Verhinderung von Missbräuchen an, die darin bestehen, durch rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen der normalerweise geschuldeten Steuer zu entgehen.[7]

[1] ABl EG L 1 v. 3.1.1994, 3.
[2] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rz. 39; Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 27.
[3] Art. 49 AEUV, Art. 31 EWR-Abkommen.
[4] Art. 56 AEUV, Art. 36 EWR-Abkommen.
[5] Art. 63 AEUV, Art. 40 EWR-Abkommen.
[6] EuGH v. 11.3.2004, Lasteyrie du Saillant, C-9/02, EuGHE I 2004, 2409, Rz. 49; EuGH v. 13.12.2005, Marks & Spencer, C-446/03, EuGHE I 2005, 10837, Rz. 35; EuGH v. 12.9.2006, Cadbury Schweppes, C-196/04, EuGHE I 2006, 7995, Rz. 47; EuGH v. 15.5.2008, Lidl Belgium, C-414/06, EuGHE I 2008, 3601, Rz. 27; EuGH v. 25.2.2010, X Holding, C-337/08, EuGHE I 2010, 1215, Rz. 25f.; EuGH v. 6.9.2012, Philips Electronics, C-18/11, DStRE 2013, 285, Rz. 22.
[7] EuGH v. 12.9.2006, Cadbury Schweppes, C-196/04, EuGHE I 2006, 7995, Rz. 51ff.; EuGH v. 21.1.2010, SGI, C-311/08, EuGHE I 2010, 487, Rz. 66; EuGH v. 20.12.2017, Deister Holding, C-504/16, C-613/16, DStR 2018, 119, Rz. 60; EuGH v. 14.6.2018, GS, C-440/17, DStR 2018, 1479, Rz. 43.

1.6.2.2 Verhältnis zum sekundären Unionsrecht

 

Rz. 20

Die Mehrwertsteuersystem-Richtlinie[1], durch die das Umsatzsteuerrecht innerhalb der EU weitgehend harmonisiert worden ist, ermächtigt die Mitgliedsstaaten in mehreren Vorschriften[2], die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen sowie Missbrauch zu verhindern. Dementsprechend ist § 42 AO auch im Umsatzsteuerrecht anwendbar.[3] Die Vorschrift normiert einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der nach der Rspr. des EuGH auch im Mehrwertsteuerrecht gilt. Danach liegt ein Missbrauch vor, wenn die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der MwStSystRL und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.[4]

 

Rz. 21

Auch die Fusionsrichtlinie[5], die Mutter-Tochter-Richtlinie[6] und die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie[7], die punktuelle Regelungen zur Harmonisierung der direkten Steuern enthalten, stehen unter dem Vorbehalt ...

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