Rz. 10

§ 42 AO ist verfassungsgemäß.[1]

In der Literatur wird zwar die Auffassung vertreten, die Vorschrift stelle eine Beschränkung der rechtsgeschäftlichen Gestaltungsfreiheit und damit einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die einschlägigen Freiheitsgrundrechte (Art. 2, 12 und 14 GG) dar.[2] Damit wird aber verkannt, dass § 42 AO die Gestaltungsfreiheit der Stpfl. als solche unberührt lässt und nur die sich aus den gewählten Gestaltungen ergebenden steuerlichen Folgen korrigiert. Selbst wenn man aus der Feststellung des BVerfG, dass es grundsätzlich jedem Stpfl. freistehe, seine Angelegenheiten so einzurichten, dass er möglichst wenig Steuern zu zahlen brauche[3], ein "Grundrecht auf Steuervermeidung und Steuerminimierung" ableiten wollte[4], würde dieses nicht den Eintritt des mit der Gestaltung bezweckten steuerlichen Erfolgs gewährleisten. Wer die Möglichkeiten steueroptimierter Gestaltung bis an die äußerste Grenze auszuschöpfen versucht, muss auch das damit verbundene Risiko des Scheiterns tragen.[5]

 

Rz. 11

Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kann sich daher nur die Frage stellen, ob § 42 AO dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot entspricht und damit dem für die Eingriffsverwaltung geltenden Gesetzesvorbehalt genügt. Dies ist zu bejahen. Zwar liegt es grundsätzlich in der Verantwortung des Gesetzgebers, für eine möglichst lückenlose Ausgestaltung der Steuertatbestände Sorge zu tragen und die erforderlichen Maßnahmen zur Missbrauchsabwehr zu treffen.[6] Eine vollständig "unhintergehbare" Formulierung der Steuergesetze ist aber praktisch nicht möglich, sodass eine allgemeine Regelung zur Verhinderung der Steuerumgehung unerlässlich ist.[7]

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche Generalklausel auf die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht verzichten kann.[8] Mit der in Abs. 1 S. 3 enthaltenen Bezugnahme auf die wirtschaftlichen Vorgänge stellt die Vorschrift dem Rechtsanwender den Bezugspunkt für die Ausfüllung des in Abs. 2 S. 1 verwendeten Begriffs "unangemessen"[9] und mit der Bezugnahme auf das gesetzliche Nichtvorgesehensein des Steuervorteils den rechtlichen Bewertungsmaßstab für die Identifikation der abzuwehrenden Umgehungserfolge zur Verfügung.

 

Rz. 12

Unabhängig von der Verfassungsmäßigkeit des § 42 AO muss seine Anwendung im Einzelfall dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.[10] Die Vorschrift ermächtigt nicht zu methodenfreier Rechtsanwendung[11] oder einer Gesetzeskorrektur nach bloßem Rechtsgefühl, sondern stellt eine ultima ratio dar, deren Anwendung auf echte und hinreichend evidente Missbrauchsfälle beschränkt bleiben muss.[12]

[1] Im Ergebnis allgemeine Ansicht: Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rz. 15; Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 23; Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 42 Rz. 16; Koenig/Koenig, AO, 3. Aufl. 2014, § 42 Rz. 7f.
[2] Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 22.
[4] Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 22; Lenz/Gerhard, BB 2007, 2431; ablehnend Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, Vor § 42 AO Rz. 38.
[5] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rz. 18.
[6] Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 22; Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 42 Rz. 8.
[7] Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 23; Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 42 Rz. 8, 16.
[8] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rz. 17; Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 42 Rz. 16; Koenig/Koenig, AO, 3. Aufl. 2014, § 42 Rz. 8.
[9] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rz. 36.
[10] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, Vor § 42 AO Rz. 38; Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 24.
[11] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, Vor § 42 AO Rz. 38; Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 42 Rz. 36.
[12] Stöber, in Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 24; Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl. 2020, § 42 Rz. 36.

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