Rz. 149

Im Steuerrecht, das sich weitgehend an wirtschaftlichen Verhältnissen orientiert, ist der wirtschaftliche Sinn der Vorschrift besonders bedeutungsvoll. Deswegen spielt die wirtschaftliche Betrachtungsweise, auch wenn in der AO eine dem § 1 StAnpG entsprechende Regelung fehlt, bei der Auslegung von Steuernormen eine bedeutende Rolle. Ihr Ziel besteht darin, Rechtsnormen nach ihrem wirtschaftlichen Sinn zu verstehen und anzuwenden. Insofern ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise als besondere teleologische Auslegungsmethode[1] zwar keine Besonderheit des Steuerrechts, sondern gilt bei der Gesetzesauslegung ganz allgemein in dem Umfang, in dem die geregelten Rechtsfragen sich an wirtschaftliche Vorgänge anlehnen oder sich an solchen Vorgängen orientieren. Eine Art wirtschaftliche Betrachtung bringen die Steuergesetze selbst an vielen Stellen zum Ausdruck, so z. B. in § 39 AO (Zurechnung, wirtschaftliches Eigentum), §§ 40, 41 AO (Besteuerung bei Gesetzes- oder Sittenverstoß bzw. Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften), § 73 AO (Haftung bei Organschaft), § 74 Abs. 2 AO (wesentliche Beteiligung eines beherrschenden Nichtbeteiligten für Haftungszwecke), § 8 Abs. 3 KStG (verdeckte Gewinnausschüttung) und § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG (Organschaft).

 

Rz. 150

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht weist allerdings im Vergleich insbesondere zum Zivilrecht gewisse Besonderheiten auf, weil das Steuerrecht ein nebengeordnetes gleichrangiges Rechtsgebiet ist, das den Sachverhalt unter spezifisch steuerrechtlichen Wertungsgesichtspunkten beurteilt.[2]

 

Rz. 151

Auf der Ebene der Sachverhaltsermittlung und -beurteilung verbindet sich mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise das Gebot, einen verwirklichten Sachverhalt bzw. wirtschaftlichen Erfolg nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten der jeweiligen Steuerrechtsnorm zuzuordnen. Auf der Ebene der Auslegung der in einer Steuerrechtsnorm verwendeten Begriffe ist eine wirtschaftliche Betrachtungsweise regelmäßig möglich und geboten, sofern der Begriff spezifisch steuerrechtlicher Natur ist.[3] Nach ihrem steuerrechtlichen Gehalt sind jedoch grundsätzlich auch solche steuerrechtlichen Tatbestandsmerkmale auszulegen, die einem anderen Rechtsgebiet und insbesondere dem Zivilrecht entnommen sind. Hier besteht weder eine Vermutung für ein übereinstimmendes noch für ein abweichendes Verständnis.[4] Die Vorstellung einer prinzipiellen Identität des zivil- und steuerrechtlichen Begriffsinhalts[5] ist damit überholt. Vielmehr ist im Rahmen einer autonomen steuerrechtlichen Auslegung zu ermitteln, ob der in einer Steuerrechtsnorm enthaltene zivilrechtliche Rechtsbegriff in seiner allein zivilrechtlichen Bedeutung zu verstehen ist oder er den durch seine zivilrechtliche Gestaltung bewirkten wirtschaftlichen Vorgang beschreibt.[6] Im Rahmen dieser Auslegung sind sowohl im Steuerrecht bzw. Teilen des Steuerrechts als auch in anderen Rechtsgebieten sachlich begründete Abweichungen vom Gehalt zivilrechtlicher Begriffe wie z. B. Eigentum, Gebäude, Kapitalgesellschaft, Kommissionsgeschäft, Treuhand und Factoring beachtlich.

 

Rz. 152

Besondere Bedeutung hat diese Problematik im Rahmen der Verkehrsteuern (z. B. ErbStG, GrEStG) wegen der hier zahlreichen Anknüpfungen an das Zivilrecht.[7] Hier kann die Auslegung ergeben, dass ein Rechtsbegriff[8] aufgrund seiner ausdrücklichen Anknüpfung an zivilrechtliche Vorgänge[9] nur nach zivilrechtlichen Maßstäben beurteilt werden kann und mithin eine wirtschaftliche Betrachtung (z. B. eine "Erbschaft im wirtschaftlichen Sinn") ausscheidet.[10] Einer autonomen steuerrechtlichen Auslegung unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte bedürfen hingegen auch bei den Verkehrsteuern solche Rechtsbegriffe, die sich ersichtlich von der zivilrechtlichen Qualifikation lösen.[11]

 

Rz. 153

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise legitimiert keinesfalls keine außerrechtliche wirtschaftliche Beurteilung rechtlicher Sachverhaltsgestaltungen und findet demgemäß ihre Grenze im Wortsinn der steuerrechtlichen Vorschrift.[12] Die wirtschaftliche Betrachtungsweise wird insoweit durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit (Tatbestandsmäßigkeit) der Besteuerung begrenzt und kann nicht als Ersatz für ein fehlendes gesetzlich vorgesehenes Tatbestandsmerkmal oder gar einen fehlenden Steuertatbestand verwendet werden.[13]

[1] Koenig/Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 4 Rz. 107 m. w. N.
[3] Z. B. der steuerrechtliche Begriff des Wirtschaftsguts, vgl. BFH v. 26.11.2014, X R 20/12, BStBl II 2015, 325.
[6] BVerfG v. 27.12.1991, 2 BvR 72/90, BStBl II 1992, 212; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 326.
[7] Dazu allgemein Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 327.
[8] Z. B. "Erwerb von Todes wegen", § 3 Abs. 1 ErbStG.

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