2.9.4.1 Anwendungsfall von Treu und Glauben

 

Rz. 56

Auch das Rechtsinstitut der Verwirkung ist Ausfluss des Grundsatzes von Treu und Glauben[1] und Anwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium"; dazu Rz. 42 ff.). Es greift ein, wenn ein Anspruchsberechtigter durch sein Verhalten beim Verpflichteten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, dass nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Anspruchs als illoyale Rechtsausübung empfunden werden muss.[2]

2.9.4.2 Gegenstand der Verwirkung

 

Rz. 57

Gegenstand der Verwirkung können materiell-rechtliche wie auch verfahrensrechtliche Ansprüche, Gestaltungsmöglichkeiten und -rechte sein. Steueransprüche[1] können ebenso verwirken wie Haftungsansprüche auf steuerliche Nebenleistungen[2] sowie Erstattungs- und Vergütungsansprüche einschließlich Rückforderung.[3]

 

Rz. 58

Auch verfahrensrechtliche und prozessuale Befugnisse und Ansprüche können verwirken, so z. B. unter besonderen Umständen die Änderungsmöglichkeit eines unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Steuerbescheids[4], der Erlass eines Gewinnfeststellungsbescheids oder GewSt-Messbescheids[5], die Ausübung prozessrechtlicher Befugnisse bei fehlerhafter Zustellung[6], die Einlegung einer Untätigkeitsklage[7] oder die Geltendmachung von Gerichtskosten.[8]

2.9.4.3 Zeitmoment

 

Rz. 59

Gegenüber den anderen Anwendungsfällen des Grundsatzes von Treu und Glauben spielt der Zeitablauf eine erhebliche Rolle. Verwirkung setzt stets voraus, dass der Berechtigte das Recht über einen längeren Zeitraum nicht in Anspruch genommen hat. Bei der Steuerfestsetzung ergibt sich die äußerste zeitliche Grenze aus den Verjährungsvorschriften.[1] Bei einem Hinzutreten weiterer vertrauensschutzbegründender Umstände wird jedoch je nach Zeitablauf der Vertrauenstatbestand immer kräftiger. Andererseits kann unter besonderen Umständen auch ein bloßer Zeitablauf ausreichend für eine Verwirkung sein (Umstandsmoment). Die Verwirkung setzt Zeitablauf und Umstandsmoment voraus.[2]

2.9.4.4 Vertrauenstatbestand

 

Rz. 60

Verwirkung hat darüber hinaus zur Voraussetzung, dass für den Anspruchsverpflichteten durch bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten ein Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen wurde, dass der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf vertrauen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden.[1] Hierfür reicht eine vom FA im Rahmen einer Steuerfestsetzung vertretene, dem Stpfl. günstige Rechtsansicht nicht aus.[2] Ein bloßes Untätigbleiben einer Finanzbehörde schafft noch keinen Vertrauenstatbestand, der auf einen Verzicht auf Geltendmachung des Anspruchs schließen lässt und begründet regelmäßig keine Verwirkung.[3]

 

Rz. 61

Voraussetzung für eine Verwirkung zugunsten des Stpfl. ist seine Disposition im Vertrauen auf das Zeit- und das Umstandsmoment.[4] Dagegen sollten Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten des Stpfl. nach der älteren höchstrichterlichen Rspr.[5] regelmäßig ohne Rücksicht auf Dispositionen der Finanzbehörde verwirken. Für diese Unterscheidung fehlen tragfähige Gründe, sodass die Disposition in beiden Fallgruppen Voraussetzung ist.[6]

 

Rz. 62

Aufgrund des Vertrauenstatbestands muss ferner der Anspruchsberechtigte auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich hierauf durch entsprechende Dispositionen eingerichtet haben.[7] Diese Dispositionen können je nach Art der verwirkenden Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten unterschiedlich sein. Prozessrechtliche Befugnisse können schneller verwirken als materiell-rechtliche Ansprüche.[8] Außerdem spielt das Zeitmoment für die Anforderungen an die Vertrauensfolge eine entscheidende Rolle.[9] Je länger der Zeitablauf, desto weniger Anforderungen sind an die Vertrauensfolge zu stellen. Der Stpfl. oder auch die Finanzbehörde muss sich bei ...

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