1 Allgemeines

1.1 Sinn und Zweck

 

Rz. 1

§ 4 AO stellt als steuerliche Begriffsbestimmung klar, dass Gesetz i. S. d. AO nicht nur das Gesetz im formellen Sinn, sondern ("jede Rechtsnorm") auch das nur materielle Gesetz (z. B. Verordnungen und Satzungen) ist. Damit bestimmt § 4 AO den Begriffsinhalt der in der AO und in den Einzelsteuergesetzen vielfach verwendeten Begriffe "Gesetz", "Steuergesetz" oder "gesetzlich", ohne dass an diesen Stellen immer sofort klar ist, ob z. B. auch Rechtsverordnungen gemeint sind.[1] Die Vorschrift entspricht Art. 2 EGBGB, § 12 EGZPO und § 7 EGStPO.

1.2 Begriff der Rechtsnorm

 

Rz. 2

Der weite Begriff der "Rechtsnorm" i. S. d. § 4 AO umfasst alle Rechtsregeln normativen Charakters ohne Rücksicht darauf, ob sie in einem förmlichen Verfahren zustande gekommen sind und wer ihr Urheber ist.[1] Rechtsnorm sind damit sind alle Arten von Rechtsquellen und Rechtssätzen.[2] Dazu gehören stets Gesetze im formellen Sinn, d. h. alle in einem verfassungsmäßigen Gesetzgebungsverfahren von den Gesetzgebungsorganen erlassenen Rechtsnormen.[3] Ein formelles Gesetz ist zumeist als abstrakter und genereller Rechtssatz auch Gesetz im materiellen Sinn. Ausnahmsweise fehlt einem Gesetz im formellen Sinn bei bloßem Innenrecht[4] die Qualität eines Gesetzes im materiellen Sinn.

 

Rz. 3

Für die Rechtsnormqualität i. S. d. § 4 AO ist es ohne Bedeutung, ob es sich um anordnende, begriffsbestimmende, erläuternde, fingierende, einschränkende oder ausdehnende Vorschriften handelt. Es spielt auch keine Rolle, ob eine Rechtsnorm Verweisungen oder eine teilweise oder vollständige Wiedergabe von außersteuerlichen Gesetzesvorschriften[5] enthält.

[1] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 1a.; Koenig/Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 4 Rz. 3.
[2] Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 4 AO Rz. 16f.
[3] Parlamentsgesetze, z. B. AO, EStG, UStG.
[4] Z. B. Haushaltsplan, Art. 101 Abs. 2 S. 1 GG.
[5] So etwa das BGB, vgl. z. B. § 108 Abs. 1 AO.

2 Einzelne Rechtsnormen

 

Rz. 4

Rechtsnormen und damit Gesetz i. S. d. AO und der Einzelsteuergesetze sind zunächst als geschriebene Rechtsnormen:

  • das GG,
  • völkerrechtliche Normen,
  • das EU-Recht,
  • die Steuergesetze und andere Gesetze im formellen Sinn des Bundes und der Länder,
  • die Rechtsverordnungen von Bund und Ländern,
  • die Landesverfassungen,
  • die autonomen Satzungen.

Daneben sind ungeschriebene Rechtsnormen:

  • das Gewohnheitsrecht (Rz. 26 ff.),
  • die allgemeinen Grundsätze des Steuerrechts (Rz. 29 ff.).
  • Keine Rechtsnormen i. S. d. § 4 AO sind, obgleich für die steuerliche Praxis von großer Bedeutung: die Verwaltungsvorschriften (dazu Rz. 108ff.).
  • Auch das Richterrecht ist keine Rechtsnorm i. S. d. § 4 AO.

2.1 Grundgesetz

 

Rz. 5

Das GG hat als Verfassung den obersten Rang unter den innerstaatlichen Rechtsnormen und Rechtsquellen. Die Steuergesetze und ihr Vollzug müssen wegen des Vorrangs der Verfassung[1] den Vorgaben des GG hinsichtlich der Steuergesetzgebungskompetenz[2], der Steuerertragshoheit[3] und der Steuerverwaltungshoheit[4] entsprechen.

 

Rz. 6

Bindungen ergeben sich ferner aus dem Rechtsstaatsprinzip[5] sowie insbesondere aus den Grundrechten. Größte Bedeutung kommt dem Gleichheitssatz[6] zu, der den Gesetzgeber zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung verpflichtet.[7] Bindungen ergeben sich ferner aus den Freiheitsrechten, insbesondere aus dem Schutz von Ehe und Familie[8], der Berufsfreiheit[9] und der Eigentumsgarantie.[10]

2.2 Völkerrechtliche Normen

 

Rz. 7

Sie erzeugen nur dann unmittelbare Rechte und Pflichten für Bewohner des Bundesgebiets, wenn sie als allgemeine Regeln des Völkerrechts gemäß Art. 25 S. 1 GG Bestandteile des Bundesrechts sind. Diese allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehen den (einfachen) Gesetzen vor; sie stehen aber im Rang unterhalb der Verfassung.

 

Rz. 8

Das auf bilateralen oder multilateralen Vereinbarungen beruhende Völkervertragsrecht[1] erlangt erst durch Umwandlung in innerstaatliches Recht unmittelbare Rechtswirkung. Auf dem Gebiet des Steuerrechts betrifft dies insbesondere die von der Bundesrepublik mit anderen Staaten geschlossenen DBA und die Vereinbarungen über die Behandlung von Diplomaten. Der Inhalt solcher Verträge erlangt erst durch ein Transformationsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Rang einfachen Bundesrechts.

[1] Z. B. EMRK; dazu z. B. Stelkens, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl 2018, EuR Rz. 16 ff.

2.3 Unionsrecht

 

Rz. 9

Rechtsnorm i. S. d. § 4 AO ist auch das EU-Recht. Diesem kommt ein Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zu, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Bundes-, Landes- oder gemeindliches Satzungsrecht handelt.[1] Grundsätzlich gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht aufgrund Art. 23 Abs. 1 GG auch für entgegenstehendes deutsches Verfassungsrecht und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in a...

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