4.1 Bindungswirkung

 

Rz. 90

Die AdV bezweckt den vorläufigen Rechtsschutz (s. Rz. 2). Die Entscheidung wird im "summarischen" Verfahren getroffen (s. Rz. 51) und entfaltet für die Entscheidung über den Einspruch keine Bindungswirkung (s. Rz. 48).

4.2 Ermessen (§ 361 Abs. 2 S. 1 AO)

 

Rz. 91

Die Finanzbehörde darf eine Sachentscheidung darüber, ob ein Aussetzungsgrund (s. Rz. 75, 86) vorliegt, nur treffen, wenn die Antragsvoraussetzungen erfüllt sind (s. Rz. 52). Auch von Amts wegen darf die Finanzbehörde die AdV nur gewähren, wenn ein Aussetzungsgrund gegeben ist. Eine in das Belieben der Behörde gestellte AdV gibt es nicht (s. Rz. 87).

Sind die Antragsvoraussetzungen erfüllt und liegt ein Aussetzungsgrund vor, so "kann" nach dem Wortlaut des § 361 Abs. 2 S. 1 AO bzw. des § 69 Abs. 2 S. 1 FGO die Finanzbehörde die Aussetzung gewähren. Dieses Handlungsermessen besteht hinsichtlich der Entscheidung, ob die Finanzbehörde von Amts wegen (s. Rz. 7) tätig werden sollte.[1] Ist dagegen von dem Beteiligten ein AdV-Antrag gestellt, so "soll" nach § 361 Abs. 2 S. 2 AO bzw. nach § 69 Abs. 2 S. 2 FGO bei Vorliegen der Voraussetzungen die Aussetzung erfolgen. Es besteht insoweit eine grundsätzliche Handlungspflicht.[2] Hinsichtlich der Beurteilung der AdV-Voraussetzungen besteht kein Ermessensspielraum. "Ernstliche Zweifel" und "unbillige Härte" sind unbestimmte Rechtsbegriffe.[3] Diese lassen zwar einen gewissen Beurteilungsspielraum zu, der aber in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar ist.

 

Rz. 91a

Bei der Entscheidung über den AdV-Antrag hat die Finanzbehörde grundsätzlich eine Interessenabwägung vorzunehmen (s. Rz. 1, 5). Wenn allerdings ein Aussetzungsgrund vorliegt, kommt eine Ablehnung der AdV nur in Ausnahmefällen in Betracht.[4] Nur überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen einstweilen zurückzustellen (s. Rz. 5, 80).

 

Rz. 92

Kein Ermessensspielraum besteht für die AdV des Folgebescheids, wenn und soweit die AdV des Grundlagenbescheids gewährt worden ist (s. Rz. 42; zur Sicherheitsleistung s. Rz. 98).

[1] Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 361 Rz. 55.
[2] AEAO zu § 361 Nr. 2.1; FG München v. 21.2.2018, 4 K 1477/17, EFG 2018, 714; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 361 Rz. 56; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 361 AO Rz. 4; Hardtke, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 361 AO Rz. 22; Dißars, in Zugmaier/Nöcker/Dißars, AO, § 361 AO Rz. 21.

4.3 Entscheidungsinhalt

 

Rz. 93

Durch § 361 Abs. 2 S. 4 AO wird der Inhalt der AdV beschränkt, als grundsätzlich Vorauszahlungen und anzurechnende Steuerabzugsbeträge nicht erstattet werden.[1] Diese Beschränkung greift nicht, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich ist, mithin soll eine Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz des Antragstellers abgewendet werden.[2] Solche wesentlichen Nachteile sind eine Bedrohung der wirtschaftlichen oder persönlichen Existenz des Antragstellers aber auch wenn ansonsten erhebliche Grundrechtsbeeinträchtigungen zu besorgen wären, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden können.[3]

Hingegen sind Zinsverluste, eine Kreditaufnahme, Investitionsrückstellungen oder Beschränkung des Lebensstandards in diesem Zusammenhang unerheblich.[4]

Nach § 361 Abs. 2 S. 1, 4 AO kann die Aufhebung oder Aussetzung teilweise erfolgen.[5] Nur eine Teilaussetzung darf erfolgen, wenn z. B. die Rechtmäßigkeit nur hinsichtlich eines Teils des festgesetzten Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis zweifelhaft ist.[6]

 

Rz. 94

Bestehen ernsthafte Zweifel hinsichtlich der insgesamt vom Stpfl. zu erbringenden Leistung, so muss die AdV in vollem Umfang gewährt werden (wegen der Einschränkung bei Steuerbescheiden s. Rz. 26). Der Finanzbehörde ist insoweit kein Ermessensspielraum eingeräumt.[7] Die Höhe der ausgesetzten Beträge ist exakt von der Finanzbehörde zu berechnen und zu bezeichnen.[8]

 

Rz. 95

Die Aussetzungswirkung tritt grundsätzlich erst mit Bekanntgabe der AdV-Entscheidung (s. Rz. 108) ein. Die Finanzbehörde ist jedoch auch befugt, die Aussetzung rückwirkend auszusprechen (Aufhebung der Vollziehung) und damit bereits eingetretene Rechtswirkungen der Vollziehbarkeit zu beseitigen.[9]

 

Rz. 96

Die AdV kann mit einem Widerrufsvorbehalt[10] ergehen.[11]

Die AdV kann auch mit einer Befristung gem. § 120 Abs. 2 Nr. 1 AO versehen werden, längstens bis zur Bestands- bzw. Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache.[12]

[1] Vgl. auch Rz. 27; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 361 AO Rz. 13; Hardtke, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 361 AO Rz. 47; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 361 Rz. 40ff.; Dißars, in Zugmaier/Nöcker/Dißars, AO, § 361 AO Rz. 36; ausführlich AEAO zu § 361 Nr. 4.6.1 mit Beispielen.
[2] S. auch Rz. 35a; Dißars, in Zugmaier/Nöcker/Dißars, AO, § 361 AO Rz. 36; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 361 AO Rz. 13; Hardtke, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 361 AO Rz. 48; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 361 Rz. 43; AEAO z...

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