Rz. 1
§ 29 AO sieht – ebenso wie § 3 Abs. 4 VwVfG – eine Not- bzw. Ersatzzuständigkeit für unaufschiebbare Maßnahmen vor. Sie gilt sowohl für den Fall, dass die an sich zuständige Behörde am rechtzeitigen Tätigwerden gehindert ist, als auch für den Fall, dass sich die wirkliche Zuständigkeit nicht sofort eindeutig klären lässt.[1] Praktische Bedeutung kommt der Vorschrift vor allem für Fahndungs- oder Vollstreckungsmaßnahmen sowie für Arrestanordnungen zu.[2]
Rz. 2
Gefahr im Verzug ist gegeben, wenn ohne das Tätigwerden der an sich unzuständigen Behörde ein Zeitverlust eintreten würde, infolgedessen der Zweck der zu treffenden Regelung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr erreicht würde.[3] Die Gefahr muss die Erfüllung einer Aufgabe der Finanzbehörde betreffen.[4] Nach einhelliger Ansicht können Gegenstand der Gefährdung nicht nur Rechte des Steuergläubigers, sondern auch solche des Stpfl. oder anderer Beteiligter sein.[5] Große praktische Bedeutung dürfte diese Erweiterung angesichts des oben[6] beschriebenen vorrangigen Anwendungsbereichs der Vorschrift aber nicht haben. Kein Fall der Gefahr im Verzug liegt vor, wenn die an sich zuständige Behörde bewusst von einem Tätigwerden absieht.[7]
Rz. 3
§ 29 AO betrifft ausschließlich die örtliche Zuständigkeit. Das Tätigwerden einer sachlich unzuständigen Behörde ist durch den Wortlaut der Vorschrift nicht gedeckt.[8] Auch eine entsprechende Anwendung der Regelung kommt insoweit nicht in Betracht, weil der Anwendungsbereich der Vorschrift anderenfalls weit über den vom Gesetz beabsichtigten Umfang hinaus ausgedehnt würde.[9] Eine Ausnahme ist allenfalls in den Fällen einer Zuständigkeitsübertragung gem. § 12 Abs. 3 bzw. § 17 Abs. 2 S. 3 und 4 FVG in Betracht zu ziehen.[10]
Rz. 4
Zuständig ist in den Fällen des § 29 AO jede – sachlich zuständige – Finanzbehörde, in deren Bezirk der Anlass für die Amtshandlung hervortritt. Anlass für eine Amtshandlung besteht, wenn aufgrund konkreter Umstände oder allgemeiner Erfahrungen ein behördliches Tätigwerden angezeigt ist.[11] Hervor tritt der Anlass dort, wo gehandelt werden soll oder die zu ergreifenden Maßnahmen wirksam werden sollen.[12]
Rz. 5
Der Umfang der Notzuständigkeit ist auf unaufschiebbare Maßnahmen beschränkt. Das sind diejenigen, die zur Abwendung der im Verzug befindlichen Gefahr unerlässlich sind.[13] Endgültige Maßnahmen sind daher nur dann zulässig, wenn vorläufige Maßnahmen nicht ausreichen.[14]
Die Notzuständigkeit endet grds. in dem Zeitpunkt, in dem die an sich zuständige Behörde von dem Anlass Kenntnis erlangt und selbst tätig werden kann.[15] Eine Fortsetzung des Verfahrens durch die zunächst tätig gewordene Behörde über diesen Zeitpunkt hinaus ist nur gem. § 27 S. 1 AO mit Zustimmung des Stpfl. zulässig.[16] Eine Weiterführung des Verfahrens nach § 26 S. 2 AO scheidet aus.[17] Begonnene Einzelnahmen dürfen aber beendet werden.[18]
Rz. 6
Nach § 29 S. 2 AO ist die sonst örtlich zuständige Finanzbehörde über die getroffenen Maßnahmen unverzüglich – d. h. ohne schuldhaftes Zögern[19] – zu unterrichten. Dadurch soll es dieser ermöglicht werden, das Verfahren zum frühestmöglichen Zeitpunkt an sich zu ziehen.[20] Ein Verstoß gegen die Pflicht zur unverzüglichen Unterrichtung lässt die Rechtmäßigkeit der bis dahin getroffenen Maßnahmen unberührt,[21] hat aber u. U. den Wegfall der Voraussetzungen für ein weiteres Tätigwerden der nach § 29 S. 1 AO zuständigen Behörde zur Folge.[22]
Rz. 7
Voraussetzungen und Grenzen der Notzuständigkeit nach § 29 AO sind durch unbestimmte Rechtsbegriffe geregelt und daher gerichtlich uneingeschränkt nachprüfbar.[23] Ein Verstoß gegen § 29 AO führt zur Verletzung der örtlichen Zuständigkeit und damit zur Rechtswidrigkeit der ergriffenen Maßnahmen.[24] Diese kann zwar unter den Voraussetzungen des § 127 AO unbeachtlich sein.[25] Allerdings dürfte es sich bei den aufgrund von § 29 S. 1 AO getroffenen Maßnahmen typischerweise[26] nicht um solche handeln, bei denen keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.
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