Rz. 94

Tatsachen oder Beweismittel müssen "nachträglich bekannt geworden" sein, d. h., die Tatsachen oder Beweismittel müssen im maßgebenden Zeitpunkt bereits bestanden haben[1] und der Finanzbehörde bis zur Veranlagung unbekannt gewesen sein. Tatsachen, die erst nach Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheids entstehen, rechtfertigen daher nicht die Änderung nach § 173 AO. Verlangt die Finanzbehörde nach Eintritt der Bestandskraft die Benennung der Empfänger nach § 160 AO, und/oder verweigert der Stpfl. diese Benennung nach diesem Zeitpunkt, ist der Tatbestand des § 173 AO nicht erfüllt.[2]

 

Rz. 95

Bekannt sein muss der Tatbestand in seinen wesentlichen steuerlichen Merkmalen, sodass eine Entscheidung über die steuerliche Erfassung möglich ist. Nicht entscheidend ist, ob der Finanzbehörde alle Einzelheiten bekannt sind. Ist etwa der Finanzbehörde bekannt, dass der Stpfl. von seinem Arbeitgeber einen bestimmten geldwerten Vorteil erhalten hat (z. B. Rabatt beim Erwerb eines Pkw), dann sind dem FA die maßgebenden Tatsachen bekannt, auch wenn ihm der genaue Wert des geldwerten Vorteils unbekannt ist.[3] Die Durchbrechung der Bestandskraft ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Finanzbehörde mangels Kenntnis keinen Anlass zum Handeln hatte. Sie ist nicht gerechtfertigt, wenn der Finanzbehörde die maßgebenden Tatbestandsmerkmale bekannt sind und sie daher über die Einbeziehung in die Besteuerung hätte entscheiden können.

 

Rz. 96

Eine Änderung nach § 173 AO ist nicht möglich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel der Finanzbehörde zwar bekannt waren, infolge einer falschen Rechtsauffassung aber als nicht entscheidungserheblich gewürdigt wurden.[4]

 

Rz. 97

Eine Tatsache kann erst bekannt sein, wenn sie eingetreten ist. Teilt der Stpfl. der Finanzbehörde mit, dass er beabsichtigt, einen Tatbestand zu verwirklichen, sind die entsprechenden Tatsachen der Finanzbehörde nicht bekannt, da nicht feststeht, ob der Stpfl. seine Absicht verwirklichen wird.[5] So kann der Inhalt eines Vertrags nicht bekannt sein, bevor der Vertrag abgeschlossen worden ist. Eine Absicht kann nur dann zum Bekanntsein von Tatsachen führen, wenn die Absicht selbst Teil des steuerlichen Tatbestands ist (z. B. Gewinnerzielungsabsicht); dann ist die Absicht eine Tatsache, die bekannt sein kann (vgl. Rz. 28). Zu den Fällen, in denen die Finanzbehörde eine Tatsache, die sie nicht kennt, gegen sich als bekannt gelten lassen muss, vgl. Rz. 137ff.

 

Rz. 97a

Ungeklärt ist, ob Tatsachen noch "neu" i. S. d. § 173 AO sind, wenn sie der Finanzbehörde im maßgebenden Zeitpunkt zwar bekannt waren, aber aus rechtlichen Gründen, z. B. wegen eines Verwertungsverbots, nicht berücksichtigt werden konnten. Die Beschränkung der Änderungsmöglichkeit auf "neue" Tatsachen soll die Finanzbehörde zwingen, bei der Steuerfestsetzung alle bekannten Tatsachen zu verwerten, damit die Steuerfestsetzung nach Möglichkeit zu einer endgültigen Entscheidung über den Steueranspruch führt.[6]

Wenn aber eine Tatsache aufgrund gesetzlicher Vorschriften nicht verwertet werden kann, kann die Steuerfestsetzung insoweit nicht zu einer endgültigen Entscheidung führen. Daher ist die Auffassung vertretbar, dass eine Tatsache, an deren Verwertung die Finanzbehörde aus Rechtsgründen gehindert ist, ihr nicht "bekannt" ist. Bei dieser Auslegung sind nur solche Tatsachen "bekannt", bei denen die Finanzbehörde rechtlich in der Lage ist, sie auch in der Steuerfestsetzung zu verwerten. Ist das nicht der Fall, und wird die Tatsache später in einer Weise ermittelt, dass sie verwertet werden kann, ist sie "neu" i. S. d. § 173 AO, auch wenn sie der Finanzbehörde als unverwertbare Tatsache bereits vorher bekannt war. Die Berücksichtigung dieser Tatsache hängt dann davon ab, aus welchen Gründen die Finanzbehörde die Tatsache ursprünglich nicht verwerten durfte. Soweit ein qualifiziertes Verwertungsverbot bestand, z. B. weil die Tatsache durch einen verfassungswidrigen Eingriff in die Grundrechte des Stpfl. ermittelt wurde, ist die Tatsache endgültig unverwertbar, d. h. sie wird auch dann nicht verwertbar, wenn sie später durch zulässige Ermittlungshandlungen festgestellt wird. Dann stellt sich die Frage nach der "Neuheit" der Tatsache i. S. d. § 173 AO nicht. Anders ist es aber, wenn nur ein einfaches Verwertungsverbot vorliegt, weil die Ermittlungshandlungen der Finanzbehörde auf Verfahrensverstößen beruhten. In diesem Fall werden die Tatsachen durch neue rechtmäßige Ermittlungshandlungen verwertbar. Dann sind sie auch "neu" i. S. d. § 173 AO, weil sie erstmals in einer für die Finanzverwaltung verwertbaren Form bekannt werden.[7]

[1] FG Köln v. 21.7.1982, XI 274/80 GE, EFG 1983, 185 zur nachträglichen Aufhebung eines Vertrags; hierzu sowie zur daraus folgenden Abgrenzung zu § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO vgl. Rz. 14.
[3] ...

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