Rz. 65

Fraglich ist die Behandlung der "bilanziellen Folgeänderung". Hat die Finanzbehörde einen Bilanzansatz in der Schlussbilanz des Jahres 01 geändert, etwa wegen des Bekanntwerdens neuer Tatsachen, so muss dies wegen des Grundsatzes des Bilanzzusammenhangs notwendige Folgen auch für die Folgejahre haben. Die Rspr. vor Inkrafttreten der AO[1] hatte in diesen Fällen die Änderung der Veranlagung der Folgejahre nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG[2] mit der Begründung für zulässig gehalten, das nachträglich wegfallende Merkmal (so die Formulierung des StAnpG) sei die Bilanzposition. Gegen diese Rspr. bestanden schon nach altem Recht Bedenken; nach der Formulierung des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO als Nachfolgevorschrift des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG ist sie m. E. nicht mehr aufrechtzuerhalten. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ist nur anwendbar, wenn ein "Ereignis" mit steuerlicher Rückwirkung eintritt, wenn sich also ein Sachverhalt ändert und diese Änderung steuerliche Rückwirkung hat. In den vorliegenden Fällen ist lediglich eine unrichtige Bilanz richtiggestellt worden, ohne dass sich der steuerlich relevante Sachverhalt geändert hätte. Wird etwa in der Schlussbilanz eines Jahres ein Wirtschaftsgut aktiviert, hat sich der steuerlich erhebliche Sachverhalt, den der Stpfl. verwirklicht hat, nicht geändert. Geändert hat sich lediglich der steuerlich wirksame Ansatz und damit die steuerlichen Auswirkungen. Das ist aber weder die Änderung eines Merkmals nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG noch der Eintritt eines Ereignisses nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Auch § 174 Abs. 4 AO gibt keine Lösung für diese Sachverhalte.[3]

 

Rz. 66

Richtiger ist es, diese Fälle mithilfe des § 173 AO zu lösen. Ist z. B. die Schlussbilanz des Jahres 01 geändert worden, etwa aufgrund einer nachträglich bekannt gewordenen neuen Tatsache, die zu einer Veränderung eines Aktiv- oder Passivpostens geführt hat, so hat dies Auswirkungen auf das Jahr 02. Beispielsweise muss ein in 01 aktiviertes Wirtschaftsgut auch in die Schlussbilanz 02 aufgenommen werden, evtl. vermindert um die Abschreibungen. Haben nun im Jahr 01 neue Tatsachen zur Änderung der Bilanz geführt, dann sind diese Tatsachen auch für das Jahr 02 noch neu, sie führen hier ebenfalls zu einer entsprechenden Änderung der Bilanzansätze. Wirkte die Bilanzierung im Jahr 01 zulasten des Stpfl. und im Jahr 02 durch die Abschreibungen zu seinen Gunsten, stellt § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sicher, dass auch eine Änderung erfolgen kann, da die für den Stpfl. günstige Tatsache (die Abschreibungen) in Zusammenhang mit der ungünstigen Tatsache der Aktivierung steht (vgl. Rz. 222ff.). Hat daher eine Tatsache wegen des Grundsatzes des Bilanzzusammenhangs Auswirkungen auf mehrere Besteuerungszeiträume, so liegt für jeden Zeitraum eine selbstständig wirkende Tatsache vor, die bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen eine Änderung der Steuerfestsetzung jedes Besteuerungszeitraums rechtfertigt.

 

Rz. 67

BFH v. 19.8.1999, IV R 73/98, BStBl II 2000, 18 m. w. N.[4] Die Rechtsprechung hat jedoch die Fälle der bilanziellen Folgeänderung unter § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO subsumiert.[5] Sie sieht in der Änderung des bilanziellen Schlussvermögens, die steuerliche Auswirkungen auf Folgejahre hat, ein "Ereignis mit Rückwirkung". Aufgrund des Grundsatzes des Bilanzzusammenhangs sei das Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs materielles Tatbestandsmerkmal für die Gewinnermittlung des Folgejahres. Die Änderung dieses Schlussvermögens sei daher ein rückwirkendes Ereignis.

 

Rz. 68

M. E. ist dem nicht zu folgen. Der BFH ignoriert, dass der vom Stpfl. verwirklichte Sachverhalt, der allein materielles Tatbestandsmerkmal des Steueranspruchs ist, sich nicht geändert hat. Geändert hat sich lediglich die steuerliche Würdigung durch den Stpfl. oder die Finanzbehörde. Eine bloße Änderung der Einschätzung ist aber kein "rückwirkendes Ereignis"; so ist im Rahmen des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO anerkannt, dass eine bloße Änderung der Rechtsansicht, der Bewertung usw. kein "Ereignis mit Rückwirkung" ist .[6] Das Argument des BFH, dass das Betriebsvermögen am Ende einer Periode materiellrechtliches Tatbestandsmerkmal für den Gewinn der folgenden Periode sei, verdeckt lediglich, dass er eine anderweitige Bewertung, also im Ergebnis eine Änderung in der Rechtsansicht, als "rückwirkendes Ereignis" ansieht.

 

Rz. 68a

Rechtspolitisch stellt die Lösung über § 173 AO bzw. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO einen unbefriedigenden Weg dar. Der Bilanzzusammenhang ist ein so spezifischer Grundsatz, dass eine eigenständige Änderungsvorschrift angebracht wäre.

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