Rz. 19

Die Finanzbehörde kann, obwohl eine Verpflichtung zur Abgabe einer Steueranmeldung besteht, eine förmliche Steuerfestsetzung erlassen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes bestand diese Möglichkeit ursprünglich nur, wenn eine Steueranmeldung abgegeben worden war, die Finanzbehörde aber eine höhere Steuerfestsetzung wollte. Durch das Steuerreformgesetz v. 25.7.1988[1] ist mit Wirkung ab 3.8.1988 der Fall einbezogen worden, dass überhaupt keine Steueranmeldung abgegeben wurde. Die hier angesprochene Fallgruppe der Steueranmeldung betrifft nur die Fälle der Steuerfestsetzung gegen den Anmeldepflichtigen als Schuldner einer gegen ihn gerichteten Steuer.[2] Insoweit sind folgende Fälle zu unterscheiden:

  • Der Steuerschuldner hat eine Steueranmeldung abgegeben, die Finanzbehörde hält aber die angemeldete Steuer für unrichtig (zu niedrig oder zu hoch). Es kann eine abweichende Steuerfestsetzung ergehen.
  • Der Steuerschuldner hat überhaupt keine Steueranmeldung abgegeben. Es kann eine Steuerfestsetzung, u. U. unter Anwendung des § 162 AO, ergehen. Dieser Fall ist durch das Steuerreformgesetz 1990 ausdrücklich geregelt worden; in diesen Fällen war die Steuerfestsetzung auch schon vor der Neuregelung zulässig. Die Steueranmeldung nach § 167 AO ist nur eine Form des Steuerfestsetzungsverfahrens nach § 155 AO, verdrängt das Steuerfestsetzungsverfahren also nicht. Liegt der Tatbestand des § 167 AO nicht vor, weil keine Steueranmeldung abgegeben wurde, folgt daraus, dass die Finanzbehörde ohne Weiteres auf das Steuerfestsetzungsverfahren nach § 155 AO zurückgreifen darf.
 

Rz. 20

Die Regelung, dass erforderlichenfalls eine Steuerfestsetzung zu erfolgen habe, ist durch das Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988[3] mit Wirkung ab 3.8.1988 auf Haftungsschuldner ausgedehnt worden (z. B. LSt-Anmeldung, KapESt-Anmeldung). Dies stellt eine unsystematische Neuerung dar. Vor dieser Neuregelung war eine Festsetzung der Steuer nach § 155 AO nur erforderlich, wenn die Festsetzung zu einer abweichenden Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerschuldner führt. Diese Regelung konnte nicht auf Abführungsverpflichtete bezogen werden. Diese Personen unterliegen nicht dem Steuerfestsetzungsverfahren nach § 155 AO, sondern dem Haftungsverfahren nach § 191 AO; gegen sie wird keine Steuerschuld festgesetzt, sondern eine Haftungsschuld.

 

Rz. 21

Durch das Steuerreformgesetz 1990 ist die Regelung eingefügt worden, dass eine Festsetzung der Steuer nach § 155 AO erforderlich (d. h. auch zulässig) sei, wenn der Haftungsschuldner die Steueranmeldung nicht abgibt. Diese Regelung führt zu systematischen Schwierigkeiten. Verletzt der Anmeldungspflichtige seine Pflichten, ist das zutreffende Verfahren das Haftungsverfahren nach § 191 AO, nicht, wie es § 167 Abs. 1 AO formuliert, eine Festsetzung der Steuer nach § 155 AO. Gemeint sein kann mit dieser Formulierung für den Fall der Abzugsverpflichtung nur, dass bei einer Pflichtverletzung des Abführungs- und Anmeldungspflichtigen eine einer Steuerfestsetzung ähnliche Festsetzung des Haftungsanspruchs erfolgen kann. Wenn dies das Haftungsverfahren sein soll, wäre die Regelung überflüssig. Es ist daher zu vermuten, dass der Gesetzgeber ein zusätzliches Verfahren neben dem Haftungsverfahren schaffen wollte. Wegen dieser systematischen Schwierigkeit formuliert § 7 Abs. 8 S. 2 VersStG, dass die Steuerentrichtungsschuld der Steuerschuld gleichstehe. Es ergeben sich nach § 167 Abs. 1 AO damit folgende Möglichkeiten:

  • Der Stpfl. ist Abzugsverpflichteter; er hat eine Anmeldung über einen unrichtigen (zu niedrigen oder zu hohen) Betrag abgegeben. Bisher hatte die Verwaltung über den überschießenden Betrag das Haftungsverfahren zu betreiben; bei zu hoher Anmeldung war eine berichtigte Anmeldung abzugeben. Nach der Neuregelung kann nunmehr auch ein Steuerbescheid über den Haftungsbetrag ergehen[4]; dies kann aber allerdings zweifelhaft sein, weil § 167 Abs. 1 AO diesen Fall nicht ausdrücklich erwähnt.
  • Der Stpfl. ist Abzugsverpflichteter, er hat keine Anmeldung abgegeben. Bisher war gegen den Stpfl. ein Haftungsbescheid zu erlassen, nach der Neuregelung kann er auch durch Steuerbescheid in Anspruch genommen werden.
 

Rz. 22

Die Finanzbehörde hat also grundsätzlich die Wahl zwischen Steuerfestsetzung (evtl. aufgrund des § 162 AO) und Haftungsbescheid. Hierbei ist keiner der Wege vorrangig. Daher kann die Finanzbehörde auch dann einen Steuerbescheid erlassen, wenn auch ein Haftungsbescheid ergehen könnte.[5] Sie braucht auch nicht zu begründen, warum sie einen Steuerbescheid anstatt einen Haftungsbescheid erlässt.[6] A. A. Niedersächsisches FG v. 29.6.1999, VI 177/96, EFG 2000, 468, wonach kein Wahlrecht der Finanzbehörde bestehen soll; ein Steuerbescheid könne nur bei zeitraumbezogener Festsetzung erfolgen (Vollschätzung für einen ganzen Zeitraum), während ein Haftungsbescheid bei sachverhaltsbezogenen Nachforderungen zu ergehen habe. M. E. bieten der Wortlaut und der Zweck des Gesetzes für eine solche einengende Auslegung keine Handhabe.

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