Rz. 10

Die Schätzung ist das äußerste Mittel der Finanzbehörde, die Besteuerungsgrundlagen mithilfe von Wahrscheinlichkeitserwägungen dem Grunde und der Höhe nach festzustellen. Die Finanzbehörde muss die Steuer festsetzen.[1] Sie darf von der Steuerfestsetzung nicht deshalb absehen, weil die Besteuerungsgrundlagen nicht mit hinreichender Sicherheit ermittelt werden können. Liegen keine anderen zumutbaren Erkenntnisquellen vor, muss daher geschätzt werden, um eine Steuerfestsetzung zu ermöglichen.

 

Rz. 11

Die Schätzung ist grundsätzlich in jeder Stufe des Steuerfestsetzungsverfahrens zulässig.[2] Eine Schätzung im Besteuerungsverfahren ist auch zulässig, wenn und soweit ein Strafverfahren schwebt. Wie sich aus § 393 Abs. 1 S. 1 AO ergibt, hat der Stpfl. die steuerrechtlichen Mitwirkungspflichten auch dann zu erfüllen, wenn wegen derselben Angelegenheit ein Strafverfahren schwebt. Der nemo tenetur-Grundsatz, wonach niemand verpflichtet ist, sich einer Straftat zu bezichtigen, gilt nur für das Strafverfahren und ermöglicht es dem Stpfl. nicht, seine Mitwirkung im Besteuerungsverfahren zu verweigern. Verletzt der Stpfl. diese Mitwirkungspflicht oder sind Tatsachen trotz Mitwirkung des Stpfl. nicht mehr aufklärbar, hat das FA die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Dies ist unabhängig von dem jeweiligen Strafverfahren. Die Schätzung bei Verweigerung der Mitwirkung ist auch kein Zwangsmittel, wird bei einem schwebenden Strafverfahren daher auch nicht durch § 393 Abs. 1 S. 2 AO ausgeschlossen.[3]

 

Rz. 12

Liegt eine bestandskräftige Entscheidung in einem Steuerstrafverfahren oder Verfahren über eine Steuerordnungswidrigkeit vor, kann die Finanzbehörde oder das FG sich diese Entscheidung zu Eigen machen und als Indiz der Schätzung zugrunde legen. Es müssen aber Ausführungen dazu gemacht werden, weshalb die Finanzbehörde bzw. das FG diese Entscheidungen für richtig hält. Der Stpfl. kann jedoch substanziiert vortragen und ggf. unter Beweis stellen, warum die strafgerichtliche bzw. bußgeldrechtliche Entscheidung unrichtig war bzw. aus welchen Gründen er ein (falsches) Geständnis abgelegt hat.[4] Die pauschale Behauptung, es läge ein Fehlurteil vor, oder ein schlichtes Bestreiten genügen jedoch nicht.

 

Rz. 13

Geschätzt wird nicht die Steuer, sondern die Besteuerungsgrundlagen. Zum Begriff der Besteuerungsgrundlagen vgl. § 157 AO Rz. 35ff. Besteuerungsgrundlagen sind nach § 199 Abs. 1 AO die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer maßgebend sind. Dieser Begriff der Besteuerungsgrundlagen ist jedoch für die Anwendung des § 162 AO zu weit. Nicht alle "tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer maßgebend sind", unterliegen der Schätzungsbefugnis der Finanzbehörde. In die Schätzung einbezogen werden nur numerische Werte und ähnliche Verhältnisse (Höhe der Einkünfte, Betriebsausgaben, Wert eines Bilanzpostens, Höhe des Vermögens, der Umsätze usw.). Nicht geschätzt werden dürfen dagegen reine Tatsachen (belastende Unterstellung), die die Grundlage, nicht den Gegenstand der Schätzung bilden. So darf z. B. nicht geschätzt werden, ob der Stpfl. Einkünfte hatte bzw. ob bestimmte Einkünfte ihm zuzurechnen sind. Dies ist mithilfe der Beweismittel festzustellen. Hierbei kann u. U. im Rahmen der Beweiswürdigung von einem dem Stpfl. ungünstigen, aber möglichen Sachverhalt ausgegangen werden, wenn etwa der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten verletzt hat.[5] Dies ist Beweiswürdigung, aber keine Schätzung.[6]

 

Rz. 14

BFH v. 15.2.1989, XR 16/86, BStBl II 1989, 462 hat jedoch die für den Stpfl. ungünstige Beweiswürdigung aufgrund einer Verletzung seiner Mitwirkungsverpflichtungen ebenfalls auf § 162 AO zurückgeführt und damit eine belastende Unterstellung zugelassen. Er hat allerdings offen gelassen, ob § 162 AO die unmittelbare Rechtsgrundlage hierfür ist oder analog heranzuziehen ist. M. E. vermischt der BFH hier unzulässig die Schätzung von numerischen Besteuerungsgrundlagen mit der Beweiswürdigung. Die Beweiswürdigung dient der Feststellung des Sachverhalts, evtl. unter Anwendung der Regeln über die "Beweisnähe", Beweisvereitelung und Beweislast. Die Schätzung sollte demgegenüber auf die Feststellung sonst nicht ermittelbarer numerischer Besteuerungsgrundlagen beschränkt bleiben. Erst wenn auf dieser Grundlage die Tatsachen bewiesen sind, also z. B., dass Einkünfte erzielt wurden, kann die Höhe dieser Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO geschätzt werden. Nicht geschätzt werden darf auch, wenn lediglich Rechtsfragen, im Gegensatz zu den der Schätzung zugänglichen numerischen Bewertungsfragen, unklar sind, etwa die Einordnung als Gewerbebetrieb oder Vermögensverwaltung. Diese Unsicherheiten sind durch Anwendung der juristischen Auslegungsmethoden zu beseitigen.

 

Rz. 15

Erfolgt eine Schätzung, ist damit unmittelbar kein Vorwurf einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit verbunden. Auch wenn kein solcher Verdacht besteht, kann e...

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