Rn. 150

Stand: EL 161 – ET: 11/2022

Durch die Regelung in § 62 Abs 1a EStG wird für EU/EWR Ausländer für den Zeitraum der ersten 3 Monate nach einer Wohnsitznahme im Inland bzw der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ein grundsätzlicher Leistungsausschluss bestimmt. Von diesem Grundsatz besteht nach § 62 Abs 1a S 2 EStG eine Ausnahme für zugezogene Personen, die Einkünfte aus einer Tätigkeit als ArbN oder Selbstständiger erzielen. Nach den Ausführungen in der BT-Drucks 19/8691, 64 soll durch den Leistungsausschluss sichergestellt werden, dass Kindergeld nur an diejenigen zugezogene Personen gezahlt wird, die wirtschaftlich aktiv sind und zB von ihrer ArbN-Freizügigkeit Gebrauch machen. Nicht begünstigt würden Personen, die für eine Erwerbstätigkeit nicht zur Verfügung stünden oder lediglich zur Arbeitsuche eingereist seien und deshalb kaum ausreichend in den Arbeitsmarkt oder in das System der sozialen Sicherheit in Deutschland integriert seien. Eine Gefährdung des Systems der sozialen Sicherheit in Deutschland solle vermieden werden, da vom Kindergeld eine nicht beabsichtigte Anreizwirkung für einen Zuzug aus anderen Mitgliedsstaaten der EU ausgehe.

Zur Unionskonformität der Regelung verweist die BT-Drucks darauf, dass ein Mitgliedsstaat gemäß Art 24 Abs 2 der Richtlinie 2004/38/EG – abweichend vom Gleichbehandlungsgebot des Art 24 Abs 1 der Richtlinie 2004/38/EG – Leistungsausschlüsse für Sozialhilfe vorsehen könne. Das Kindergeld sei zwar unionsrechtlich eine Familienleistung iSd Art 3 Abs 1 Buchst j iVm Art 1 Buchst z der VO (EG) Nr 883/2004, da es sich um eine Geldleistung – unabhängig von einer Hilfebedürftigkeit – zum Ausgleich von Familienlasten handele. Bei geringem oder gar keinem Einkommen diene das Kindergeld jedoch nicht der gebotenen steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes, sondern allein der Förderung der Familie. Es wirke somit bei wirtschaftlich nicht aktiven Personen wie eine Sozialleistung und mindere im Falle einer sozialrechtlichen Hilfebebedürftigkeit als Einkommen den Bedarf. Der EuGH v 25.02.2016, C-299/14, Rs Garcia-Nieto, habe die Unionskonformität des pauschalen Leistungsausschlusses für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende im SGB II für Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten während der ersten 3 Monate ihres Aufenthalts bestätigt.

 

Rn. 150a

Stand: EL 161 – ET: 11/2022

Der EuGH ist dieser Argumentation in seinem Urteil EuGH v 01.08.2022, C-411/20, auf das Vorabentscheidungsersuchen des FG Bre v 20.08.2020, 2 K 99/20 (1), IStR 2020, 799) nicht gefolgt, sondern hat entschieden, dass § 62 Abs 1a S 1 EStG gegen Art 4 der VO (EG) Nr 883/2004 verstößt, soweit sich der wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger rechtmäßig in Deutschland aufhalte. Art 4 der VO (EG) Nr 883/2004 konkretisiere den Grundsatz der Gleichbehandlung gegenüber Unionsbürgern, die im Aufnahmestaat Leistungen der sozialen Sicherheit in Anspruch nehmen wollten. Beim Kindergeld handele es sich nicht um eine "Sozialleistung" iSv Art 24 Abs 2 der Richtlinie 2004/38, da das Kindergeld unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers gewährt werde und nicht dazu diene, dessen Lebensunterhalt sicherzustellen. Art 24 Abs 2 der Richtlinie 2004/38 könne nicht auf Leistungen der sozialen Sicherheit erstreckt werden. § 62 Abs 1a S 1 EStG enthalte eine unmittelbare Diskriminierung, da deutsche Staatsangehörige, auch wenn sie nicht wirtschaftlich aktiv seien, sogleich und nicht erst nach 3 Monaten Kindergeld erhielten, sobald sie, nachdem sie sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats aufgehalten hätten, nach Deutschland zurückkehrten. Allerdings müsse der wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger den Willen zum Ausdruck gebracht haben, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in Deutschland zu errichten, und nachweisen, dass seine Anwesenheit in Deutschland hinreichend dauerhaft sei, um sie von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden. Ob ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland vorliege, sei im Wesentlichen eine Tatsachenfrage, die der Beurteilung des nationalen Gerichts unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unterliege.

 

Rn. 150b–150c

Stand: EL 161 – ET: 11/2022

vorläufig frei

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