a) Frühere Vervielfältigungslehre

 

Rn. 237

Stand: EL 156 – ET: 02/2022

Auf der Grundlage der Begründung zum EStG 1934 haben der RFH (RFH RStBl 1939, 577) und der BFH (BFH BStBl III 1952, 99; BStBl II 1988, 782 mit umfassenden Nachweisen) aus dem Erfordernis der persönlichen Arbeitsleistung des Berufsträgers (s Rn 63ff) zu nahezu sämtlichen in § 18 Abs 1 Nr 1 EStG aufgezählten Berufstätigkeiten die sog Vervielfältigungstheorie entwickelt. Diese beruht auf dem Gedanken, dass bei Beschäftigung von mehr als einem qualifizierten Mitarbeiter die Arbeitskraft des Berufsträgers teilweise ersetzt oder vervielfacht werde und dass deshalb von freier Berufstätigkeit iSd § 18 Abs 1 Nr 1 EStG nicht mehr gesprochen werden könne (BFH BStBl II 1984, 823; 1994, 936; 2002, 202). Nach der früheren Rspr (RFH RStBl 1939, 577; BFH BStBl III 1951, 197; 1952, 99; 1958, 34; 1969, 334) führte daher bereits die Mithilfe eines gleichartigen Mitarbeiters zur Gewerblichkeit der Einkünfte des Berufsträgers.

 

Rn. 238

Stand: EL 156 – ET: 02/2022

Die Vervielfältigungslehre stieß außerhalb der Rspr der Steuergerichte weithin auf Kritik; drohte doch die Gewerblichkeit, wenn die Gründe für die Privilegierung als freier Beruf nicht mehr vorlagen.

ME bestand die Kritik jedoch nicht zu Recht; denn Einsatz der eigenen Arbeitskraft bedeutet, dass der StPfl zumindest die qualifizierenden und qualifizierten Tätigkeiten selbst verrichtet Die Privilegierung der freien Berufe ist nur zu rechtfertigen, wenn und soweit sich das Gewinnstreben des Freiberuflers auf den auf persönlicher Qualifikation beruhenden persönlichen Arbeitseinsatz beschränkt, im Gegensatz zum Einsatz von Personal und Vermögen nach Art eines gewerblichen Betriebes. Freie Berufstätigkeit liegt nur dann vor, wenn der Berufsträger Personal und Vermögen nur als Hilfsmittel zur Berufsausübung einsetzt, zB der Arzt seine Röntgeneinrichtung, seine Klinik usw, der RA seine Fachbücherei (Einzelheiten s Rn 67ff). Die Vervielfältigungstheorie verträgt sich also gut mit dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des § 18 Abs 1 EStG.

b) Gesetzliche Regelung 1960

 

Rn. 239

Stand: EL 156 – ET: 02/2022

Die gesetzliche Neuregelung in § 18 Abs 1 Nr 1 S 3 EStG 1960 durch das StÄndG 1960 (BGBl I 1960, 616) hat die Vervielfältigungstheorie im Kern zwar nicht aufgegeben, aber durch eine nachgiebige Abgrenzung (BFH BStBl II 1988, 782) auf ein Maß zurückgeführt, das weitgehend den Wünschen der Vertreter der freien Berufe entsprach. Sie sieht nunmehr vor, dass ein Freiberufler auch dann freiberuflich tätig ist, wenn er sich der Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte bedient, vorausgesetzt er wird aufgrund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig.

Man nannte das: dem Wesen der freien Berufe entsprechend (vgl RegE BT-Drucks III/1811, 11, 12; Bericht des FinAussch des BT BT-Drucks III/1941, 4), ein Verbalismus, der methodisch ein Zirkelschluss ist und kein Sachargument für die Abkehr von der Vervielfältigungstheorie darstellt. Allerdings soll die Beschäftigung qualifizierter Mitarbeiter zahlenmäßig auf ein Maß beschränkt sein, das dem Berufsträger noch eine leitende und eigenverantwortliche Tätigkeit offenlässt.

Der die Neuregelung auslösende Prüfungsauftrag des Deutschen BT v 20.08.1958 (vgl BT-Drucks III/1811, 11 und 12; Bericht des FinAussch BT-Drucks III/1941, 4) hatte zum Ziel, das bis dahin geltende Vervielfältigungs- durch ein anderes Abgrenzungsverfahren zu ersetzen (BFH BStBl II 1988, 782). Die selbstständige Berufstätigkeit der Katalogberufler wird indessen unverändert weiterhin durch die Art und Weise der von ihnen ausgeübten Tätigkeit gekennzeichnet (vgl § 15 Abs 2 EStG: "als Ausübung …"; § 18 Abs 1 Nr 1 S 2EStG: "Berufstätigkeit der …"; BFH BStBl II 1976, 155; 1995, 732). Wesentliches Merkmal der freiberuflichen Tätigkeit zur Abgrenzung gegenüber der gewerblichen Tätigkeit sei die unmittelbare, persönliche und individuelle Arbeitsleistung des Freiberuflers (BFH BStBl III 1963, 595; 1965, 557; BStBl II 1969, 165; 1988, 17; 1988, 782; 1989, 727; 1990, 507; 1995, 732).

Wenn diese Wesensbestimmung (hierzu s oben) richtig ist, dann ist aber auch richtig, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung trotz Einfügung des Merkmals der Eigenverantwortlichkeit diesen historisch gewachsenen Begriff des freien Berufs wesensverändert hat: Gehörte es früher etwa zum "Wesen" des Freiberuflers, dass er seinen Klienten selbst betreut, so darf es seit 1960 genügen, dass er seinen qualifizierten Kollegen damit betraut.

Insb wenn zB die Auffassung vertreten wird, ein StB mit 50 qualifizierten Fachkräften sei noch eigenverantwortlich tätig, wird deutlich, dass die höchstpersönliche Leistung für den Klienten (Kunden) kein "Wesens"-element des Freiberufs mehr sein soll und ist – ganz davon abgesehen, dass die Rechtspraxis notgedrungen an der Aufgabe scheitern muss, Kriterien für eine nachvollziehbare Subsumtion zu finden. Die neuere Rsp des BFH hat das "Wesensmerkmal" der Unmittelbarkeit so weit ausgedünnt, dass es weitgehend von der geschickten Darstellung vor dem FA/FG abhängt, ob si...

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