Leitsatz

Voraussetzung für die Berücksichtigung eines über 27 (bei Behinderungseintritt nach dem 31.12.2006: 25) Jahre alten behinderten Kindes ist nicht, dass neben der Behinderung auch die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt bereits vor Vollendung des 27. (bzw. 25.) Lebensjahres vorgelegen hat.

 

Normenkette

§ 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG

 

Sachverhalt

Der 1962 geborene Sohn der Klägerin ist behindert (GdB ab 1985: 50, ab 1989: 60). Ein Gutachter hielt ihn 1989 für mit Einschränkungen grundsätzlich arbeitsfähig. Eine Berufsausbildung absolvierte er nicht. Er stand jedoch mehrmals kurzzeitig in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen, z.B. als Hilfsarbeiter und Monteur. Dazwischen war er arbeitsunfähig erkrankt, arbeitslos und absolvierte eine Maßnahme zur Verbesserung seiner Vermittlungsaussichten. Von Oktober 2002 bis November 2003 und von Mai bis Juli 2005 arbeitete er in Werkstätten für psychisch Behinderte. Seit März 2003 erhielt er eine Erwerbsminderungsrente. Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Kindergeld ab.

Das FG wies die Klage ab, da nur die Behinderung, nicht aber auch die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt, vor Vollendung des 27. Lebensjahres vorgelegen habe (FG Münster, Urteil vom 14.01.2008, 4 K 4381/05 Kg, Haufe-Index 2035957, EFG 2008, 1638).

 

Entscheidung

Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, damit im zweiten Rechtsgang geklärt werden kann, ob der Sohn der Klägerin im Streitzeitraum (ab Juni 2005) wegen seiner bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretenen Behinderung außerstande gewesen ist, sich selbst zu unterhalten.

 

Hinweis

1. Volljährige Kinder können bis zum 21. Lebensjahr berücksichtigt werden, wenn sie als Arbeitsuchende gemeldet sind, und bis zum 25. Lebensjahr, wenn sie sich in Berufsausbildung befinden oder bestimmte Dienste leisten. Wenn ein volljähriges Kind allerdings wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung für die fehlende Fähigkeit zum Selbstunterhalt auch ursächlich ist, kann Kindergeld ohne Rücksicht auf sein Alter beansprucht werden; also z.B. auch von 90-jährigen Eltern für ihr 70-jähriges Kind.

2. Wegen des durch das FamFördG vom 22.12.1999 dem § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG angefügten zweiten Halbsatzes muss die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein. Ob dies nur für die Behinderung gilt oder ob auch die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt vor Vollendung des 27. Lebensjahres vorgelegen haben muss, ist streitig.

3.Der BFH hat sich aufgrund des Gesetzeswortlauts und der Gesetzgebungsgeschichte der h.M. angeschlossen, wonach nur die Behinderung vor Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze vorgelegen haben muss und die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt auch später eingetreten sein kann.

4. Eine behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist gegeben, wenn die vom Kind trotz der Behinderung erzielbaren Einkünfte und Bezüge nicht dessen gesamten Lebensbedarf decken können. Dieser besteht aus dem existenziellen Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf. Dies kann darauf beruhen, dass das Kind keine normal entlohnte Ganztagsbeschäftigung ausüben kann oder ein hoher behinderungsbedingter Mehrbedarf anfällt. Bei arbeitslosen Kindern muss die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich für die Arbeitslosigkeit sein.

5. Das Urteil begünstigt Eltern von Kindern, die trotz einer Behinderung bis zum 25./27. Lebensjahr (noch) imstande waren, sich selbst zu unterhalten, und bei denen diese Fähigkeit erst später entfallen ist (z.B. infolge einer Verschlechterung ihres Zustands). Mit einer gegenteiligen Entscheidung hätte der BFH einen Anreiz gesetzt, die Erwerbstätigkeit bereits vor Eintritt der Altersgrenze aufzugeben.

6. Das Besprechungsurteil lässt offen, ob die vor Vollendung des 25./27. Lebensjahres eingetretene Behinderung mit derjenigen identisch sein muss, die den späteren Verlust der Fähigkeit zum Selbstunterhalt auslöst. Dafür dürfte der Wortlaut des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG sprechen ("Voraussetzung ist, dass die Behinderung ..."). Anderenfalls könnten z.B. die Eltern eines infolge schweren Rheumas arbeitsunfähig gewordenen 50-Jährigen darauf verweisen, dass dieser sich bereits seit dem 20. Lebensjahr wegen Alkoholmissbrauchs oder Depressionen in ärztlicher Behandlung befunden hat.

7.Ein Schwerbehindertenausweis ist nicht erforderlich. Klärungsbedürftig bleibt jedoch, welchen Schweregrad die Behinderung vor dem 25./27. Lebensjahr erreicht haben muss: Genügt bereits eine geringe, aber dauerhafte Beeinträchtigung? Ist eine mindestens einem GdB von 25 entsprechende Beeinträchtigung erforderlich (vgl. § 33b Abs. 3 EStG) oder muss die Behinderung einen Grad von 50 erreicht haben, weil dann die Fähigkeit zum Selbstunterhalt jedenfalls bei Hinzutreten weiterer Umstände typischerweise einschränkt ist (vgl. BFH, Urteil vom 22.10.2009, III R 50/07, BFH/NV 2010, 716, BFH/P...

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