Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe: Um verfahrensrechtliche Zufälligkeiten bei gleichzeitiger oder getrennter Aburteilung mehrerer Straftaten möglichst zu kompensieren und um eine Besser- oder Schlechterstellung des Täters insoweit zu vermeiden, wird nach § 55 StGB im Erkenntnisverfahren bzw. nach § 460 SPO im Vollstreckungsverfahren die Bildung der Gesamtstrafe nachträglich vorgenommen, wenn die Vorschriften über die Gesamtstrafe außer Betracht geblieben sind. Dies kann z.B. deshalb vorkommen, weil die Vorverurteilung nicht bekannt, nicht sicher belegbar oder noch nicht rkr. war oder weil die Notwendigkeit der Gesamtstrafenbildung schlicht und einfach übersehen oder die Rechtslage vom Tatrichter falsch gesehen wurde.

Beachten Sie: Die nachträgliche Gesamtstrafenbildung gilt jedoch nur für Strafen, die von einem deutschen Gericht verhängt wurden, nicht für im Ausland verhängte Strafen (BGH v. 27.1.2010 – 5 StR 432/09, wistra 2010, 177).

Beraterhinweis Die Regelung über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung stellt sich als überaus kompliziert und fehleranfällig dar (so auch der BGH v. 9.12.2009 – 5 StR 459/09, wistra 2010, 99). Sie ist überdies ein "zweischneidiges Schwert": Im Allgemeinen impliziert sie eine Art "Rabatt" für den Täter, weil die nun noch einzubeziehende Einzelstrafe in der Gesamtstrafe aufgeht und sie nicht im gleichen Maße erhöht, wie wenn sie singulär vollstreckt würde. Das nach § 55 StGB vorgeschriebene Prozedere kann aber auch dazu führen, dass zuvor eine Gesamtstrafe bestanden hat, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, diese aber nunmehr über der Grenze von zwei Jahren liegt und somit nicht mehr aussetzungsfähig ist (BGH v. 27.1.2010 – 5 StR 432/09, wistra 2010, 177).

Voraussetzung für die nachträgliche Gesamtstrafenbildung ist nach § 55 StGB:

  • dass gegen den Angeklagten eine rkr. Vorverurteilung vorliegt,
  • dass die entsprechende Strafe noch nicht vollständig vollstreckt, verjährt, erlassen oder sonst erledigt (z.B. eine Geldstrafe noch nicht gezahlt oder eine Freiheitsstrafe noch nicht verbüßt bzw. eine Bewährungsstrafe noch nicht erlassen) ist und
  • dass der Angeklagte die nunmehr abzuurteilende Tat zeitlich vor der früheren Verurteilung begangen hat und die Tat nunmehr beendet ist (vgl. vgl. BGH v. 18.8.2015 – 1 StR 305/15, NStZ-RR 2015, 305; Rackow in Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar StGB, 3. Aufl. 2020, § 55 StGB Rz. 3.), wobei für den Zeitpunkt der früheren Verurteilung auf das Datum der letzten tatrichterlichen Sachentscheidung – ggf. des Berufungsurteils – abzustellen ist (vgl. OLG Bamberg v. 25.6.2018, 3 OLG 110 Ss 41/18, AO-StB 2019, 19 = wistra 2018, 487; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 55 Rz. 6; v. Heintschel-Heinegg in v. Heintschel-Heinegg, BeckOK/StGB, § 55 Rz. 7 [Mai 2021]).
 

Beispiel:

Gegen den Angeklagten H. läuft im Oktober 2021 vor dem LG Halle eine Hauptverhandlung wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei (§ 374 Abs. 2 AO). Die Anklage geht von einem Tatzeitraum von April bis September 2020 aus. Nach dem vorliegenden Bundeszentralregisterauszug ist der Angeklagte vom AG Dresden am 15.1.2021 rkr. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtmG) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt worden, die er noch nicht verbüßt hat.

Da H. die nunmehr abzuurteilende Tat vor der Verurteilung durch das AG Dresden begangen hat und die Strafe noch nicht vollständig vollstreckt ist, muss eine Gesamtstrafe gebildet werden. (Denn das AG Dresden hätte die nunmehr angeklagte Tat theoretisch mit aburteilen können.)

Die frühere Verurteilung entfaltet eine sog. Zäsurwirkung. Dabei gilt das Prinzip der frühestmöglichen Gesamtstrafenbildung: Es ist also von der frühesten unerledigten Vorverurteilung auszugehen. Diese bildet die Zäsur, so dass eine Zusammenfassung nur mit Einzelstrafen möglich ist, soweit der Angeklagte die entsprechende Tat vor diesem Zeitpunkt begangen hat.

Es kann auch vorkommen, dass mehrere Taten abzuurteilen sind, die teilweise vor und teilweise nach mehreren Vorverurteilungen liegen. Dann ergeben sich u.U. mehrere Zäsuren. Dies kann die Bildung mehrerer Gesamtstrafen erforderlich machen.

 

Beispiel:

Der Angeklagte war mit Strafbefehl vom 28.3.2019 rkr. wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 50 EUR verurteilt worden. In der nunmehr laufenden Hauptverhandlung kann ihm nachgewiesen werden, dass er im Februar 2019 eine räuberische Erpressung, im April 2020 eine Sachbeschädigung und im November 2020 einen Diebstahl begangen hat. Für die räuberische Erpressung soll eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, für die Sachbeschädigung eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen und für den Diebstahl eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 EUR verhängt werden.

Auf Grund der Zäsurwirkung des Strafbefehls vom 28.3.2019 ist aus der Geldstrafe von 90 Tagessätzen und der Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten zunächst eine Gesamtfreiheitsstra...

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