Rz. 32

Der konkrete Maßstab, an dem die verfassungsrechtlich erforderliche Steuerfreistellung zu messen ist, wurde erst im Lauf der Jahre sukzessive entwickelt. In seiner Kindergeldentscheidung[1] hält es das BVerfG für zulässig, das Existenzminimum aus Praktikabilitätsgründen in einem einheitlichen Betrag anzusetzen, der nicht nach Altersgruppen oder Gebieten gestaffelt werden muss. Dieser Betrag kann sich nicht an dem individuellen, dem Status der einzelnen Familie entsprechenden bürgerlich-rechtlichen Unterhalt orientieren. Entscheidend sind vielmehr die verbrauchsbezogenen und regelmäßig den steigenden Lebenshaltungskosten angepassten Sozialhilferegelsätze. Aus den ländermäßig verschiedenen und altersgestaffelten Regelsätzen ist ein Durchschnittssatz zu bilden. Diesem sind die durchschnittlich gewährten Sonderleistungen zuzuschlagen.

 

Rz. 33

Nach der Grundfreibetragsentscheidung[2] hängt das Existenzminimum von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab, den der Gesetzgeber einschätzen kann.[3] Soweit dieser Mindestbedarf, den der Staat bei einem mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Sozialleistungen zu decken hat, im Sozialhilferecht festgelegt ist, darf das steuerlich zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag nicht unterschreiten. Dementsprechend bemisst sich die Höhe des steuerlichen Existenzminimums nach dem Sozialhilferegelsatz, zuzüglich Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie Einmalbeihilfen, einschl. des Mehrbedarfs für Erwerbstätige.[4] Bei erheblichem Preisgefälle für existenznotwendige Aufwendungen (z. B. auf dem Wohnungsmarkt) kann der einheitlich festzusetzende Betrag am unteren Wert orientiert sein, sofern zur ergänzenden Bedarfsdeckung Sozialleistungen, z. B. Wohngeld, gezahlt werden.[5]

 

Rz. 34

Da der Gesetzgeber hier auf Zukunftsprognosen und ungewisse Komponenten angewiesen ist, hielten der BFH und dem folgend das BVerfG ein Zurückbleiben der steuerlichen Entlastung gegenüber den Sozialhilfeleistungen bis zu 15 % für unschädlich und dementsprechend einen Einschätzungsrahmen in dieser Höhe für angemessen.[6] Dies sollte unabhängig davon gelten, ob der Gesetzgeber diesen Spielraum bewusst ausgenutzt hatte oder nicht.

Das BVerfG hat betr. Kinderfreibeträge hat seine Rspr. zur Anerkennung einer "Toleranzgrenze" für den Gesetzgeber aufgegeben.[7] Die sozialrechtlichen Existenzminima sind damit Mindestbeträge, die nicht unterschritten werden dürfen. Bei der Umrechnung des Kindergelds in einen Kinderfreibetrag ist vom individuellen Grenzsteuersatz auszugehen. Ferner berechnet sich der Wohn-/Heizbedarf nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach der Mehrbedarfsmethode (Differenzmethode); s. a. Rz. 4.

Das BVerfG hat betr. Kinderbetreuungskosten die bisherige Rspr. i. d. S. fortentwickelt, dass mit den Kinderfreibeträgen bis 1999 nur die allgemeinen laufenden Belastungen für die Grundbedürfnisse eines Kindes, wie Nahrung, Kleidung, Wohn- und Heizbedarf (sächliches Existenzminimum), abgegolten werden.[8] Außerdem anerkennt das BVerfG als Teile des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums einen Betreuungsbedarf und ferner einen Erziehungsbedarf, die unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG bisher unberücksichtigt geblieben sind. Nach den Vorgaben des BVerfG wurde ab 2000 anstelle des für verfassungswidrig erklärten § 33c EStG a. F. ein Betreuungsfreibetrag eingeführt.[9] Ferner wurde das Kindergeld angehoben, das nunmehr auch den Betreuungsbedarf abdeckt. Außerdem wurde ein besonderer Betreuungsfreibetrag für behinderte Kinder anerkannt (§ 32 Abs. 6 S. 2 EStG), der allerdings nur in den Jahren 2000 und 2001 galt. Ab 2002 wurde neben der Erhöhung des Kindergelds und einer geringen Erhöhung des Freibetrags für das sächliche Existenzminimum ein einheitlicher Freibetrag für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung für alle Kinder anstelle des bisherigen Betreuungsfreibetrags eingeführt.[10]

Als Mindestgröße bedarf das Existenzminimum einer laufenden Überprüfung und Anpassung an die ggf. gestiegenen Lebenshaltungskosten.[11] Gesetzgebung und Rspr. orientieren sich strikt an den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die vom BVerfG aufgrund einer steuerpolitischen Idealvorstellung entwickelten Grundsätze können indes im Einzelnen in vieler Hinsicht Zweifeln begegnen:

  • Zweifelhaft ist die Ausrichtung an dem aus den ländermäßig verschiedenen und altersgestaffelten Sozialhilferegelsätzen gebildeten Durchschnittssatz unter Einbeziehung der durchschnittlich gewährten Sonderleistungen.[12] Denn die Ergebnisse solcher Berechnungen hängen von einer Reihe von Ausgangswerten ab, die – wie z. B. der Wert für Wohnung und Heizung – nur geschätzt werden können.[13] Größere Ungenauigkeiten ergeben sich aus der Vernachlässigung der regionalen Unterschiede und vor allem der konkreten Familiensituation, die allein durch Praktikabilitätserwägungen nicht zu weit in den Hintergrund gerückt werden sollten.
  • Auch die Koppelung an die Sozialhilf...

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