1. Grundsätzliches

 

Rz. 44

[Autor/Stand] Europarechtliche Zweifelsfragen. Angesichts der von § 50d Abs. 1 statuierten besonderen Regelung für bestimmte grenzüberschreitende Sachverhalte stellt sich die Frage, ob diese Regelung mit Unionsrecht vereinbar ist. Dabei werden im Folgenden zunächst die Vereinbarkeit des Abzugsverfahren im Allgemeinen mit Unionsrecht (Rn. 45) und sodann die Vereinbarkeit des Abzugsverfahrens im Fall von Streubesitzdividenden i.S.d. § 8b Abs. 1 KStG (Anm. 51 ff.) beleuchtet.

[Autor/Stand] Autor: Bozza, Stand: 01.06.2019

2. Vereinbarkeit des Abzugsverfahrens nach Abs. 1 mit Unionsrecht

 

Rz. 45

[Autor/Stand] Grundsätzliche Rechtfertigung des Steuerabzugsverfahrens. Das Steuerabzugsverfahren i.S.d. Abs. 1 Stufe 1 ist grundsätzlich zur Sicherung des nationalen Steueraufkommens gerechtfertigt.[2] Die Art. 56 AEUV (ex-Art. 59 EG-Vertrag, ex-Art. 49 EG) und Art. 57 AEUV (ex-Art. 60 EG-Vertrag, ex-Art. 50 EG) sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen auf die Vergütung eines Dienstleisters, der im Mitgliedstaat der Leistungserbringung nicht ansässig ist, ein Steuerabzugsverfahren Anwendung findet, während die Vergütung eines in diesem Mitgliedstaat ansässigen Dienstleisters diesem Verfahren nicht unterliegt. Sie sind nämlich durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Effizienz der Beitreibung der Einkommensteuer zu gewährleisten.

 

Rz. 46

[Autor/Stand] Rechtfertigung wegen wirksamer Durchsetzung der Steuerpflicht. Abgesehen davon, dass dem gebietsfremden Steuerpflichtigen die Möglichkeit eingeräumt wird, vorab eine Freistellungsbescheinigung zu erwirken, ist die unterschiedliche Behandlung von Gebietsfremden und Gebietsansässigen also unbeschadet verfahrens- und liquiditätsmäßiger Nachteile, denen der Gebietsfremde ausgesetzt wird, im Grundsatz gerechtfertigt, weil sich die beschränkte Steuerpflicht ansonsten kaum wirksam durchsetzen lässt.[4]

 

Rz. 47

[Autor/Stand] Rechtfertigung im Lichte der „ Scorpio ”-Entscheidung des EuGH. Die "Scorpio"-Entscheidung des EuGH betraf zwar die Jahre 1993 und 1996. Es ist jedoch – unbeschadet der Erweiterung der EG-Beitreibungsrichtlinie auf Steuern vom Einkommen[6] – auch für die Zeit vom 1.7.2002 keine andere Einschätzung gerechtfertigt.[7] Das Abzugssystem stellt ein sachgerechtes und verhältnismäßiges Mittel zur Sicherstellung der Besteuerung dar. Inlands- und Auslandssachverhalte sind insofern eben nicht vollumfänglich vergleichbar.[8] Die Beitreibungsrichtlinie ändert daran nichts: Das politische Ziel der Schaffung eines EU-Binnenmarkts kann "die Wirklichkeit" nicht "überspielen" und diese ermöglicht ungeachtet der Beitreibungsrichtlinie gegenwärtig keine effiziente Beitreibung.[9] Dabei ist zu beachten, dass ein grenzüberschreitendes Vollzugsdefizit zu einer gleichheitsrechtlich zweifelhaften "umgekehrten" Ungleichbehandlung "nach innen" führt.[10]

 

Rz. 48

[Autor/Stand] Rechtfertigung im Lichte der BFH-Rechtsprechung. Diese Sichtweise wird auch durch den BFH bestätigt, der beschränkt Steuerpflichtigen innerhalb der EU – jedenfalls nach der bis zum Veranlagungszeitraum 2008 geltenden Rechtslage – ein "gesetzesübersteigendes" (optionales) Veranlagungsrecht versagt hat.[12] Ob der Steuerabzug auch dann noch gerechtfertigt ist, wenn der EU-ausländische Vergütungsgläubiger im Inland über eine Betriebsstätte verfügt, ist allerdings vor dem Hintergrund der jüngeren EuGH-Rechtsprechung wieder zweifelhaft. So hat der EuGH eine entsprechende Regelung des tschechischen Rechts als unionsrechtswidrig verworfen.[13]

 

Rz. 49

[Autor/Stand] Berücksichtigung von Erwerbsaufwand. Unabhängig davon erfordern die unionsrechtlichen Grundfreiheiten jedoch, dass der Erwerbsaufwand, der in unmittelbarem Zusammenhang mit den beschränkt steuerpflichtigen Einkünften steht, bereits im Abzugsverfahren berücksichtigt wird.[15]

 

Rz. 50

[Autor/Stand] Änderungen des Steuerabzugsverfahrens wegen unionsrechtlichen Bedenken durch das JStG 2009. Der Gesetzgeber hat das Steuerabzugsverfahren gem. § 50a EStG mit Blick auf die unionsrechtlichen Bedenken durch das JStG 2009 modifiziert. Dabei wurde überlegt, ein durchgängiges Veranlagungsverfahren einzuführen oder alternativ eine Meldepflicht des Vergütungsschuldners, das Finanzamt von der Vergütung, deren Grund und dem Zahlungsempfänger in Kenntnis zu setzen.[17] Im Ergebnis hat er hiervon jedoch Abstand genommen und an dem Steuerabzug als solchem grundsätzlich festgehalten, wobei dessen Ausgestaltung den unionsrechtlichen Anforderungen angepasst wurde. Die Beibehaltung des Steuerabzugsverfahrens konnte bzw. kann im Lichte des Scorpio-Urteils des EuGH angesichts der derzeitigen verwaltungs- und vollstreckungstechnischen (Umsetzungs-)Möglichkeiten sowie dem Stand der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit grundsätzlich gerechtfertigt werden.[18] Dennoch war es notwendig, das Steuerabzugsverfahren zu ändern. Dabei verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, zum einen den unionsrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen und zum anderen die durch das Abkommensrecht gewährten Besteuerungsrechte stärker...

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