Entscheidungsstichwort (Thema)

Bekanntgabe eines Haftungsbescheids an den Haftungsschuldner persönlich trotz vorliegender Vollmacht einer Steuerberatungsgesellschaft für das Besteuerungsverfahren; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wenn ein Verwaltungsakt dem Inhaltsadressaten selbst bekannt-gegeben wird und hierdurch eine dem Bevollmächtigten erteilte und der Finanzbehörde bekannte Empfangsvollmacht ohne besondere Gründe unbeachtet bleibt, wird dieser Bekanntgabemangel durch die Weiterleitung des Verwaltungsakts an den Bevollmächtigten geheilt. Dann beginnt die Einspruchsfrist in dem Zeitpunkt, zu welchem der Bevollmächtigte den Verwaltungsakt nachweislich erhalten hat.

2. Eine dem Finanzamt vorliegende Empfangsvollmacht einer Steuerberatungsgesellschaft ist in einem Haftungsverfahren unbeachtlich, wenn sie sich ausdrücklich auf eine Steuernummer bezieht, die für die laufend veranlagten Steuern zugeteilt und der Haftungsbescheid unter einer anderen Steuernummer erlassen worden ist.

3. Die für einen Steuerpflichtigen vergebene Steuernummer betrifft nur einen Teil möglicher abgabenrechtlicher Verfahren und stellt keine für sämtliche möglichen Rechtsbeziehungen mit der Behörde geltende Ordnungsnummer dar, unter welcher durchgängig von allen Stellen der Finanzbehörde zu beachtende Grunddaten abgelegt werden.

4. Wenn ein Bevollmächtigter für einen Steuerpflichtigen auftritt, ohne der Finanzbehörde eine schriftliche Vollmacht vorzulegen, steht es im Ermessen der Behörde, ob sie den Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen selbst oder dessen Bevollmächtigten zustellt. Denn die Behörde soll nicht über das notwendige Maß hinaus gebunden werden und ihr soll die Möglichkeit belassen werden, den vielfältigen Erscheinungen des Massenverfahrens individuell Rechnung zu tragen.

5. Einem Steuerpflichtigen ist es i.d.R. möglich und zumutbar, sich nach Erhalt eines Haftungsbescheids bei seinem Steuerberater zu erkundigen, ob auch dieser eine Bescheidausfertigung erhalten hat und sich zu vergewissern, dass der Berater einen Einspruch für ihn einlegt bzw. eingelegt hat. Andernfalls ist kein Raum für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist.

 

Normenkette

AO § 110 Abs. 1, § 122 Abs. 1 S. 4, Abs. 5, § 124 Abs. 1, § 355 Abs. 1 S. 1; VwZG §§ 3, 7 Abs. 1 S. 1; ZPO § 181; BGB §§ 187-188; AO § 108 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Einspruch gegen den Haftungsbescheid zulässig ist.

Der Beklagte übersandte dem Kläger (persönlich) mit Schreiben vom 16.03.2022 unter der Steuernummer xxx/xxxx/xxx1 eine Haftungsanfrage bezogen auf Steuerschulden der Firma M (im Folgenden bezeichnet als: M). Der Aufforderung des Beklagten zur Beantwortung der in dem Schreiben gestellten Fragen bis zum 19.04.2022 ist der Kläger nach Aktenlage nicht nachgekommen.

Der Beklagte erließ unter dem 26.04.2022 einen Haftungsbescheid, in dem der Kläger für Steuerrückstände der M in Haftung genommen wird. In dem Haftungsbescheid (Steuernummer xxx/xxxx/xxx1, Aktenzeichen Vbz …) wird ausgeführt: Die Steuerpflichtige M, A-Str. 84-88, 00000 J, schulde dem Beklagten als Steuerschuldnerin die in der Anlage „Kontoauszug 1” im Einzelnen aufgeführten Steuern und Abgaben. Für diese Steuerrückstände in Höhe von 1.218.436,87 EUR hafte er, der Kläger, neben der Steuerschuldnerin, der M, gemäß §§ 69, 34, 35, 71 und 191 der Abgabenordnung (AO). Dieser Betrag sei spätestens zahlbar am 30.05.2022. In der Anlage „Kontoauszug 1” sind „offene” Beträge zur Umsatzsteuer 2007 bis 2019 und September 2020, Säumniszuschläge, Zinsen zur Umsatzsteuer 2007 bis 2018 und der Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 2019 aufgeführt. In den Gründen wird u.a. ausgeführt: Nach den Feststellungen der Steuerfahndung N sei der Kläger faktischer Geschäftsführer der M im Sinne des § 35 AO. Er sei über sämtliche relevante Sachverhalte informiert gewesen, habe sämtliche betriebliche Entscheidungen getroffen und / oder im Nachgang legitimiert. Er habe das Sagen gehabt und sei Kopf des Unternehmens gewesen. Er habe neben den formal bestellten Geschäftsführerinnen der M S.L., O V und L V, die steuerlichen Pflichten der M zu erfüllen gehabt. Der Haftungszeitraum beginne am 10.02.2007 mit der ältesten Pflichtverletzung, die noch andauere und ende spätestens mit dem Erlass dieses Haftungsbescheids. Die älteste Pflichtverletzung liege in der Nichtabgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung für Januar 2007 begründet. Der Aufforderung, mitzuteilen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe die anderen Gläubiger der M gegenüber ihm, dem Beklagten, vorrangig befriedigt worden seien, sei er nicht nachgekommen. Die formal bestellte Geschäftsführerin Frau L V werde neben ihm als Haftende nach §§ 69, 34 AO durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen. Es werde noch geprüft, ob auch Frau O V als Haftende gemäß §§ 69, 34 AO durch Haftungsbescheid in Anspruch zu nehmen sei. Der Kläger werde für die in der Anlage „Kontoauszug 2” aufgeführten Steuerrückstände zudem nach §§ 71, 191 AO in Haftung ...

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