Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in eine versäumte Einspruchsfrist

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wird – wie im Streitfall – ein dem Bevollmächtigten und dem von ihm Vertretenen nicht zuzurechnendes reines Büroversehen geltend gemacht, gehört zum erforderlichen schlüssigen Vortrag des „Kerns” der Wiedereinsetzungsgründe die Darlegung, warum ein Organisationsverschulden auszuschließen ist.

2.Etwaige Büroversehen können sich nicht mehr auswirken, sobald der Vorgang an den Bearbeiter der Sache (Rechtsanwalt, Steuerberater) vorgelegt worden ist und die formelle und/oder materielle Bearbeitung der Sache begonnen hat und andauert.

3.Der Steuerpflichtige kann sich nur dann auf ein unverschuldetes Büroversehen berufen, wenn aufgrund seiner Organisation gewährleistet ist, dass unter gewöhnlichen Umständen fristgebundene Schriftsätze tatsächlich das Büro verlassen.

4. Eine stillschweigende Gewährung von Wiedereinsetzung setzt voraus, dass sich die Behörde über die Gewährung einer Wiedereinsetzung im Klaren war oder dass zumindest ein verständiger Antragsteller nach den Gesamtumständen auf eine entsprechende Entscheidung in der Wiedereinsetzungsfrage schließen kann und darf.

 

Normenkette

AO § 355 Abs. 1 S. 1, § 110 Abs. 1-2

 

Nachgehend

BFH (Beschluss vom 05.04.2023; Aktenzeichen I B 98/21)

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Gründe

I.

Die Klägerin ist Teil des Konzerns der XYT AG.

Nach Abschluss einer Außenprüfung erließ das Finanzamt am 15. Dezember 2009 unter anderem einen nach § 164 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) geänderten Bescheid über Körperschaftsteuer für 2003, mit dem die Körperschaftsteuer 2003 auf ... EUR festgesetzt wurde. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde in diesem Bescheid aufgehoben.

Mit Schreiben vom 27. April 2010, das am 28. April 2010 (Frühleerung 29. April 2010) beim Finanzamt einging, legte die Klägerin, vertreten durch die Z Steuerberatungsgesellschaft (Z) Einspruch ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund unverschuldeter Fristversäumnis. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26. November 2008 (I R 07/08) und die anhängige Verfassungsbeschwerde (2 BvR 862/09) gegen den im Prüfungsbericht vom 6. November 2009 versagten pauschalen Betriebsausgabenabzug für Drittstaatendividenden sei mit Schreiben vom 13. Januar 2010 Einspruch eingelegt und das Ruhen des Verfahrens bis zum Ergehen der Entscheidungen beantragt worden. Das Schreiben vom 13. Januar 2010 sei jedoch versehentlich nicht versandt worden.

Ursprünglich seien die Bescheide durch die zuständige Sachbearbeiterin der Z ohne Änderung geprüft worden. Aufgrund des Hinweises auf Seite 22 des Betriebsprüfungs-Berichts sei allerdings der Einspruch vom 13. Januar 2010 verfasst worden. Bei Durchsicht der Gesellschaftsakte im Rahmen der Überarbeitung der Steuererklärungen für die Folgejahre (2006 bis 2008) sei das offensichtlich nicht versandte Schreiben entdeckt worden. Offensichtlich sei das Einspruchsschreiben durch die für die Versendung des Schreibens zuständige, ansonsten zuverlässige Sekretärin, die seit 2007 auch ohne Beanstandung das Fristenkontrollbuch für den Standort München führe, nicht versandt, sondern vor Einholung der Zweitunterschrift in der Gesellschaftsakte abgelegt worden. Die Sekretärin sei bei Übergabe des Einspruchsschreibens insbesondere auf dessen Bedeutung im Hinblick auf die Fristwahrung (18. Januar 2010) und auf die Abweichung vom ursprünglichen Schreiben über die Bescheidprüfung vom 11. Januar 2010 hingewiesen worden.

Mit Schreiben vom 15. Juni 2010 forderte das Finanzamt die Klägerin auf, den Wiedereinsetzungsantrag weiter zu begründen und insbesondere mitzuteilen, wann die Fristversäumnis festgestellt wurde. Außerdem wurde das Originaleinspruchsschreiben vom 13. Januar 2010 angefordert und um Erläuterung der Organisation der Postausgangskontrolle in der Steuerkanzlei gebeten.

Mit Schreiben vom 23. Juli 2010 legte die Z dem Finanzamt eine Kopie des Einspruchsschreibens vom 13. Januar 2010 sowie die Kopie eines Arbeitszeugnisses ihrer Mitarbeiterin E vom 24. März 2010 vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Arbeitszeugnis Bezug genommen. Auf dem Einspruchsschreiben ist über den am unteren Seitenrand enthaltenen zwei Absendern nur die handschriftliche Unterschrift von X angebracht. Die Z erläuterte, dass das Einspruchsschreiben bei der Erstellung der Steuererklärungen 2006 bis 2009 und der Durchsicht der Gesellschaftsakte der A GmbH am 16. April 2010 zu Tage gekommen sei.

Nachdem die zuständige Sachbearbeiterin der Z den Körperschaftsteuerbescheid 2003 vom 15. Dezember 2009 ursprünglich ohne Änderungen geprüft hatte, habe die Sekretärin sogleich nach Versand und Freigabe durch die zuständige Sachbearbeiterin die Frist im elektronischen Fristenbuch ordnungsgemäß gestrichen. Im Rahmen des Postausgangs würden am Standort München durch die jeweils zuständige Sekretärin die zum Versand vorgesehenen Unterla...

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