Entscheidungsstichwort (Thema)

Schätzung von Besteuerungsgrundlagen. Rechte des Beschuldigten bei der Vernehmung. Verwertungsverbot bei Verstoß zu Lasten des Beschuldigten gegen zwingende Vorschriften der Strafprozessordnung erstreckt sich neben dem Strafverfahren auch auf das Besteuerungsverfahren

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Allein die Tatsache, dass eine Person innerhalb von vier Jahren fünf Mal vom Zoll beim unerlaubten Verbringen von Zigaretten in das Bundesgebiet aufgegriffen worden ist, bietet keine Grundlage für eine die Festsetzung von Abgaben tragende Überzeugung dahin, dass solche Straftaten auch schon vor dem ersten Aufgriff begangen worden sind.

2. Bei der Vernehmung eines Beschuldigten muss sichergestellt sein, dass er sich über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf im Klaren ist. Bei der Befragung zu jedem einzelnen Tatvorwurf ist er über sein Recht zu belehren. Angaben zur Sache zu verweigern.

3. Bezieht sich eine als auf den Vorfall eines bestimmten Tages bezogen deklarierte Vernehmung des Beschuldigten tatsächlich im Schwerpunkt auf angebliche Straftaten zu anderen Zeiten, ohne dass dies dem Beschuldigten offenbart wird, so verstößt dies gegen elementare Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren und beeinträchtigt durch Täuschung seine Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung. Auf diese Weise unter Verstoß gegen die Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip gewonnene Erkenntnisse unterliegen sowohl im Hinblick auf das Strafverfahren, als auch hinsichtlich des Besteuerungsverfahrens einem absoluten Verwertungsverbot.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 162, 370; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; AO 1977 § 404 S. 1; StPO § 136a Abs. 1, § 163a Abs. 4, § 136 Abs. 1, § 136a Abs. 3; AO 1977 § 208 Abs. 1 Nr. 3, § 393 Abs. 1

 

Tenor

Der Steuerbescheid des Beklagten vom 12. April 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. März 2000, geändert durch Bescheid vom 22. August 2000, wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Die Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in dieser Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird für die Zeit bis zum 29. August 2000 auf 4.685,04 EUR (9.163,14 DM), für die Zeit danach auf 4.490,51 EUR (8.782,68 DM) festgesetzt.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich dagegen, dass der Beklagte gegen ihn Einfuhrabgaben in Höhe von 8.782,68 DM wegen angeblicher Verbringung von Zigaretten aus … in den Jahren 1990 bis 1998 festgesetzt hat. Der Festsetzung liegen Angaben des Klägers bei einer Vernehmung durch Beamte der Zollfahndung vom 11. Januar 1999 zugrunde. Der Kläger ist demgegenüber der Ansicht, seine bei jener Vernehmung gemachten Angaben dürften für die Festsetzung von Zollabgaben gegen ihn nicht verwertet werden.

Der Kläger ist … in … geboren. Er lebt seit … in …

Die angefochtene Abgabenfestsetzung wurde ausgelöst durch einen Aufgriff des Klägers am 11. Januar 1999, bei dem festgestellt wurde, dass er mit 3.600 Zigaretten einreiste. Vorher war der Kläger bei Einreisen aus … am 28. April 1996 mit 13.050 Zigaretten, am 26. Januar 1997 mit 7.450 Zigaretten, am 2. Juni 1997 mit 7.250 Zigaretten und am 11. Mai 1998 mit 6.050 Zigaretten aufgegriffen worden. Später wurde er am 7. Juni 1999 mit 800 Zigaretten aufgegriffen. In allen diesen sechs Fällen sind bestandskräftige Steuerbescheide ergangen.

Am 11. Januar 1999 um 10.00 Uhr forderte am Zollamt … der Zollsekretär … den Kläger auf, alle mitgebrachten Waren anzumelden. Dieser gab an, er führe eine Stange Zigaretten und Lebensmittel mit sich. Bei der anschließenden Kontrolle seines Personenkraftwagens wurden durch die Zollbeamten … und … weitere 3.400 Zigaretten festgestellt. Sie waren in der hinteren Stoßstange versteckt.

Der Kläger bekannte sich zu den Zigaretten. Um 10.30 Uhr wurde ihm die Einleitung des Steuerstrafverfahrens mitgeteilt. Er wurde darüber belehrt, daß es ihm freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern. Der Kläger erklärte ausweislich des Anzeigeformulars, er wolle nicht aussagen.

Der Kläger wurde dann ab 11.30 Uhr in … vom Zollfahndungsamt … – Ermittlungsgruppe … – vernommen. Verhandlungsleiter war Zollbetriebsinspektor …, das Protokoll führte Zollinspektor z. A. … Die Vernehmung endete um 13.15 Uhr.

Ausweislich des Protokolls wurde dem Kläger eröffnet, dass gegen ihn „wegen Verdachts der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO” ein Steuerstrafverfahren eingeleitet worden sei. Er wurde darauf hingewiesen, dass es ihm freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Der Kläger erklärte, er wolle aussagen.

Nach den Fragen zur Person befasste die Vernehmung sich zunächst mit dem Vorfall vom 11. Januar 1999. Die Niederschrift lautet dann weiter:

„Frage:

Wie oft fahren Sie nach …?

Antwort:

Seit 1990 fahre ich regelm...

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