Entscheidungsstichwort (Thema)

Schutz der finanziellen Interessen der EU, Nationale Verjährungsfrist bei Hinterziehung von MwSt, Anwendungsverbot einer nationalen Verjährungsfrist bei MwSt-Hinterziehung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine nationale Verjährungsregelung für Straftaten wie die des Art. 160 letzter Absatz in Verbindung mit Art. 161 des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251 vom 5. Dezember 2005, die zu der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit vorsah, dass eine Unterbrechungshandlung im Rahmen der Strafverfolgung von schwerem Mehrwertsteuerbetrug die Wirkung hat, die Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel ihrer ursprünglichen Dauer zu verlängern, kann die den Mitgliedstaaten durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen beeinträchtigen, falls diese nationale Regelung die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen verhindern oder für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats längere Verjährungsfristen als für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union vorsehen sollte, was zu überprüfen Sache des nationalen Gerichts ist. Das nationale Gericht ist verpflichtet, Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV volle Wirkung zu verleihen, indem es erforderlichenfalls die Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lässt, die die Wirkung hätten, den betreffenden Mitgliedstaat an der Erfüllung der ihm durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen zu hindern.

2. Eine Verjährungsregelung für Mehrwertsteuerdelikte wie die des Art. 160 letzter Absatz in Verbindung mit Art. 161 des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251 vom 5. Dezember 2005 kann nicht im Licht der Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV beurteilt werden.

 

Normenkette

AEUV Art. 325 Abs. 1-2, Art. 101, 107, 119

 

Beteiligte

Taricco u.a

Italienischer Staat

Ivo Taricco u.a

 

Verfahrensgang

Tribunale di Cuneo (Italien) (Beschluss vom 17.01.2014; ABl. EU 2014, Nr. C 194/10)

 

Tatbestand

„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Strafverfahren betreffend Mehrwertsteuerdelikte ‐ Art. 325 AEUV ‐ Nationale Regelung, die absolute Verjährungsfristen vorsieht, die zur Straffreiheit der Delikte führen können ‐ Potenzielle Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Europäischen Union ‐ Pflicht des nationalen Gerichts, jede Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die die unionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, unangewendet zu lassen“

In der Rechtssache C-105/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Cuneo (Italien) mit Entscheidung vom 17. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 5. März 2014, in dem Strafverfahren gegen

Ivo Taricco,

Ezio Filippi,

Isabella Leonetti,

Nicola Spagnolo,

Davide Salvoni,

Flavio Spaccavento,

Goranco Anakiev

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz und J.-C. Bonichot, der Richter A. Arabadjiev, M. Safjan und D. Šváby, der Richterinnen M. Berger (Berichterstatterin) und A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ von Herrn Anakiev, vertreten durch L. Sani, avvocato,

‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Salvatorelli und L. Ventrella, avvocati dello Stato,

‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,

‐ der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Rossi und R. Lyal als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 30. April 2015

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV sowie des Art. 158 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Taricco, Herrn Filippi, Frau Leonetti, Herrn Spagnolo, Herrn Salvoni, Herrn Spaccavento und Herrn Anakiev (im Folgenden zusammen: Angeschuldigte) wegen des Vorwurfs, eine Vereinigung zur Begehung verschiedener Mehrwertsteuerdelikte gegründet und organisiert zu haben.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 325 AEUV sieht vor:

„(1) Die Union und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtun...

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