Entscheidungsstichwort (Thema)

ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BUNDESGERICHTSHOF – DEUTSCHLAND. Freizuegigkeit. Niederlassungsfreiheit. Rechtsanwälte. Zugang zum Beruf. Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu prüfen, ob die nach nationalem Recht erlangten Diplome und Fähigkeiten denjenigen entsprechen, die im Herkunftsmitgliedstaat erworben worden sind. Verpflichtung, mit Gründen versehene Entscheidungen zu erlassen, die gerichtlich überprüft werden können

 

Leitsatz (amtlich)

Artikel 52 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß die Behörden eines Mitgliedstaats, bei denen ein Gemeinschaftsangehöriger die Zulassung zum Anwaltsberuf beantragt, der bereits in seinem Herkunftsland als Rechtsanwalt zugelassen und im erstgenannten Mitgliedstaat als Rechtsbeistand tätig ist, prüfen müssen, inwieweit die Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch das von dem Betroffenen in seinem Herkunftsland erworbene Diplom bescheinigt werden, den nach dem Recht des Aufnahmestaats vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen. Diese Prüfung muß nach einem Verfahren vorgenommen werden, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts in bezug auf den effektiven Schutz der den Gemeinschaftsangehörigen vom Vertrag verliehenen Grundrechte in Einklang steht. Deshalb muß jede Entscheidung gerichtlich auf ihre Rechtmässigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden und der Betroffene von den Gründen Kenntnis erhalten können, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht.

Entsprechen die Diplome einander nur teilweise, so können die nationalen Behörden von dem Betroffenen den Nachweis, daß er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, verlangen. Insoweit müssen die Behörden beurteilen, ob die im Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen eines Studiengangs oder praktischer Erfahrung erworbenen Kenntnisse für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen.

Ist im Aufnahmemitgliedstaat die Absolvierung eines beruflichen Vorbereitungsdienstes oder eines Berufspraktikums vorgeschrieben, so haben die nationalen Behörden zu beurteilen, ob eine im Herkunfts- oder im Aufnahmemitgliedstaat erworbene Berufserfahrung als diesem Erfordernis ganz oder teilweise entsprechend angesehen werden kann.

 

Normenkette

EWGVtr Art. 52

 

Beteiligte

Irène Vlassopoulou

Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg

 

Tenor

Artikel 52 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß die Behörden eines Mitgliedstaats, bei denen ein Gemeinschaftsangehöriger die Zulassung zum Anwaltsberuf beantragt, der bereits in seinem Herkunftsland als Rechtsanwalt zugelassen und im erstgenannten Mitgliedstaat als Rechtsbeistand tätig ist, prüfen müssen, inwieweit die Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch das von dem Betroffenen in seinem Herkunftsland erworbene Diplom bescheinigt werden, den nach dem Recht des Aufnahmestaats vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen; entsprechen diese Diplome einander nur teilweise, so können die betreffenden nationalen Behörden von dem Antragsteller den Nachweis verlangen, daß er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat.

 

Gründe

1 Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 18. September 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 3. November 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 52 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Vlassopoulou, einer in Athen zugelassenen Rechtsanwältin griechischer Staatsangehörigkeit, und dem Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg, das es abgelehnt hat, sie als Rechtsanwältin beim Amtsgericht Mannheim sowie bei den Landgerichten Mannheim und Heidelberg zuzulassen.

3 Neben ihren griechischen Diplomen erwarb Frau Vlassopoulou an der Universität Tübingen den Titel eines Doktors der Rechte. Seit Juli 1983 ist sie in einer deutschen Anwaltskanzlei in Mannheim tätig. Im November 1984 wurde ihr die Erlaubnis zur Besorgung fremder Rechtsgeschäfte nach dem Rechtsberatungsgesetz (BGBl. III 303-12) für das griechische Recht und für das Gemeinschaftsrecht erteilt. In bezug auf das deutsche Recht ist Frau Vlassopoulou unter der Verantwortung eines ihrer deutschen Kollegen aus der Kanzlei tätig.

4 Am 13. Mai 1988 beantragte Frau Vlassopoulou beim Ministerium ihre Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Das Ministerium lehnte den Antrag mit der Begründung ab, Frau Vlassopoulou habe nicht die gemäß § 4 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BGBl. 1959 I, S. 565) für den Zugang zum Anwaltsberuf erforderliche Befähigung zum Richteramt erworben. Im wesentlichen wird diese Befähigung durch ein rechtswissenschaftliches Studium an einer deutschen Universität, das Ablegen der ersten Staatsprüfung, einen Vorbereitungsdienst und eine zweite Staatsprüfung nach dessen Abschluß erworben. Das Ministerium führte ausserdem an, Artikel 52 EWG-Vertrag gewähre der Antragstellerin nicht das Recht, ihren Beruf in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer in...

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