Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Glaubhaftmachung durch eidesstattliche Versicherung

 

Leitsatz (redaktionell)

Das Gebot rechtlichen Gehörs ist verletzt, wenn der Vortrag im Wiedereinsetzungsantrag und die Glaubhaftmachung durch die beigefügte eidesstattliche Versicherung als wesentliches Vorbringen vom Gericht nicht zur Kenntnis genommen wird.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1; ZPO § 294

 

Verfahrensgang

LG Bonn (Beschluss vom 31.10.1986; Aktenzeichen 6 S 279/86)

 

Tatbestand

I.

1. Der Beschwerdeführer begehrte gegenüber der Beklagten, einer ehemaligen Mieterin, die Zahlung rückständiger Mietzinsen. Das Amtsgericht gab der Klage nur zum Teil statt. Der Beschwerdeführer legte gegen dieses Urteil fristgerecht Berufung ein. Die unter dem 10. September 1986 gefertigte Berufungsbegründung ging am 15. September 1986 beim Landgericht ein. Da sie nicht unterschrieben war, wies die Vorsitzende Richterin der zuständigen Landgerichtskammer mit einem an die Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers gerichteten Aufklärungsschreiben vom 16. September 1986 auf das Fehlen der Unterschrift hin. Gleichzeitig verfügte sie die Übersendung einer Durchschrift des Aufklärungsschreibens an den Prozeßbevollmächtigten der Gegenseite. Nachdem innerhalb der bis einschließlich 15. Oktober 1986 laufenden Berufungsbegründungsfrist (§ 223 Abs. 1 Satz 3 ZPO) eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung nicht eingegangen war, bat die Kammervorsitzende mit Schreiben vom 16. Oktober 1986 um Mitteilung, ob die Berufung zurückgenommen werde. Mit einem am 28. Oktober 1986 eingegangenen – nunmehr unterschriebenen – Schriftsatz begründete der Beschwerdeführer die Berufung erneut und beantragte zugleich wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trug er vor, das Aufklärungsschreiben der Kammervorsitzenden vom 16. September 1986 sei offenbar infolge eines Versehens der Geschäftsstelle nur dem Prozeßbevollmächtigten der Gegenseite am 18. September 1986 in dessen Gerichtsfach gelegt worden. Dieser habe das Schreiben Rechtsanwalt Sebastian Sch. erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 16. Oktober 1986 übergeben. Das Versehen der Geschäftsstelle könne ihm (Beschwerdeführer) nicht angelastet werden. Auch das Fehlen der Unterschrift unter dem Berufungsbegründungsschriftsatz könne ihm nicht zugerechnet werden, da insoweit ein Versehen einer sonst zuverlässigen Anwaltsgehilfin vorliege. Die Richtigkeit dieser Angaben versicherte Rechtsanwalt Matthias Sch. zum Zwecke der Glaubhaftmachung anwaltlich. Außerdem legte er eidesstattliche Versicherungen seiner Anwaltsgehilfinnen vor sowie eine solche des Rechtsanwalts Sebastian Sch., in welcher dieser unter anderem die im Wiedereinsetzungsantrag enthaltenen Tatsachenangaben bestätigte.

Durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluß wies das Landgericht den Wiedereinsetzungsantrag des Beschwerdeführers zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Es unterstellt zugunsten des Beschwerdeführers, daß er die Versendung der nicht unterzeichneten Berufungsbegründungsschrift nicht zu vertreten habe, weil von einem Versehen einer ausreichend unterwiesenen und überwachten Anwaltsgehilfin auszugehen sei. Jedoch hätten es die Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers nicht unverschuldet versäumt, die Unterzeichnung der Berufungsbegründungsschrift fristgerecht nachzuholen. Der Beschwerdeführer habe nämlich nicht glaubhaft gemacht, daß das Aufklärungsschreiben der Kammervorsitzenden vom 16. September 1986 seine Prozeßbevollmächtigten erst am 16. Oktober 1986 erreicht habe. Die eidesstattliche Versicherung des Rechtsanwalts Sebastian Sch. behandle ausschließlich die Frage, welche Anweisungen und Kontrollmaßnahmen im Büro der Rechtsanwälte Sch. getroffen würden, um sicherzustellen, daß nur unterzeichnete Schriftsätze versandt würden. Es sei darin „mit keinem Wort erwähnt”, daß die Rechtsanwälte Sch. erst am 16. Oktober 1986 durch Vermittlung des gegnerischen Prozeßbevollmächtigten von dem Aufklärungsschreiben der Kammervorsitzenden erfahren hätten. Eine entsprechende Stellungnahme des Prozeßbevollmächtigten der Gegenseite sei nicht vorgelegt worden. Auch stelle die anwaltliche Versicherung des Rechtsanwalts Matthias Sch. im Wiedereinsetzungsantrag kein geeignetes Mittel zur Glaubhaftmachung dar, da das richterliche Aufklärungsschreiben nicht ihm, sondern Rechtsanwalt Sebastian Sch. ausgehändigt worden sei. Das Gericht sehe keine Veranlassung, dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur weiteren Glaubhaftmachung seines Vortrags einzuräumen. Auch weise der Akteninhalt deutlich darauf hin, daß das Aufklärungsschreiben an die Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers abgesandt worden sei. Schließlich könne vom Unterschriftserfordernis auch nicht im Hinblick darauf abgesehen werden, daß innerhalb der Berufungsbegründungsfrist zwei die Berufungsbegründung erwähnende weitere Schriftsätze des Beschwerdeführers zu den Akten gelangt seien.

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG.

Eine das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG verletzende Handhabung der Wiedereinsetzungsvorschriften liege darin, daß das Landgericht überraschend und ohne Hinweis gemäß § 139 ZPO seinen Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen habe, obwohl die Kammervorsitzende gegenüber seinen Prozeßbevollmächtigten bei einer persönlichen Vorsprache am 17. Oktober 1986 den Eindruck erweckt habe, es liege ein Organisationsverschulden vor, weil das Aufklärungsschreiben lediglich dem gegnerischen Prozeßbevollmächtigten in das Gerichtsfach gelegt worden sei. Vor einer Änderung der zuvor bekundeten Rechtsauffassung hätte ihm das Gericht Gelegenheit zur Stellungnahme geben und seiner richterlichen Aufklärungspflicht genügen müssen.

Das Gericht habe ferner seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es sein Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag nicht berücksichtigt habe. So habe Rechtsanwalt Matthias Sch. im Wege der anwaltlichen Versicherung glaubhaft gemacht, daß das Aufklärungsschreiben vom 16. September 1986 offenbar infolge eines Versehens der Geschäftsstelle nicht an ihn übersandt worden sei. Auch habe Rechtsanwalt Sebastian Sch. in seiner eidesstattlichen Versicherung durch Bezugnahme auf den Wiedereinsetzungsantrag diese Tatsache behauptet und glaubhaft gemacht. Dennoch sei das Landgericht im angegriffenen Beschluß davon ausgegangen, er habe nicht glaubhaft gemacht, daß das Aufklärungsschreiben seine Prozeßbevollmächtigten erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erreicht habe.

Schließlich stelle die Nichtberücksichtigung des Umstandes, daß er sich jedenfalls mit weiterem Schriftsatz vom 15. September 1986 die Berufungsbegründung zu eigen gemacht habe, einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar.

3. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen und die Gegnerin des Ausgangsverfahrens haben sich zur Verfassungsbeschwerde nicht geäußert.

In einer dienstlichen Stellungnahme hat die Vorsitzende Richterin der beschließenden Zivilkammer mitgeteilt, daß sie sich an den Inhalt der Unterredung mit Rechtsanwalt Sebastian Sch. vom 17. Oktober 1986 nicht mehr erinnern könne.

Der Prozeßbevollmächtigte der Gegenseite hat mitgeteilt, daß er Rechtsanwalt Sebastian Sch. am 16. Oktober 1986 eine Ausfertigung des Aufklärungsschreibens vom 16. September 1986 übergeben habe. Dieser habe ihm gegenüber in einem vorangegangenen Telefongespräch am 16. Oktober 1986 erklärt, daß er das Schreiben nicht erhalten habe.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist wegen Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör begründet.

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozeßgrundrecht sicherstellen, daß die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerfGE 70, 215 ≪218≫ m.w.N.).

Gegen dieses Gebot hat das Landgericht verstoßen. Es hat wesentliches Vorbringen des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen. Dieser hat in seinem Wiedereinsetzungsantrag vortragen lassen, das richterliche Aufklärungsschreiben vom 16. September 1986 sei offenbar infolge eines Versehens der Geschäftsstelle nicht seinen Prozeßbevollmächtigten übersandt, sondern dem Bevollmächtigten der Gegenseite in das Gerichtsfach gelegt worden. Jener habe das Schreiben am 16. Oktober 1986 gegen 17.30 Uhr Rechtsanwalt Sebastian Sch. übergeben.

Die Richtigkeit dieser Angabe hat Rechtsanwalt Sebastian Sch. in seiner dem Wiedereinsetzungsantrag beigefügten eidesstattlichen Versicherung bestätigt. Gleichwohl wird im angegriffenen Beschluß ausgeführt, dessen eidesstattliche Versicherung behandle ausschließlich die Frage, welche Anweisungen und Kontrollmaßnahmen im Büro der Rechtsanwälte Sch. getroffen würden, um sicherzustellen, daß nur unterzeichnete Schriftsätze versandt würden; es werde mit keinem Wort erwähnt, daß sie erst durch Vermittlung des Prozeßbevollmächtigten der Gegenseite am 16. Oktober 1986 von dem Aufklärungsschreiben der Kammervorsitzenden erfahren hätten. Diese Ausführungen lassen erkennen, daß das Gericht das tatsächliche Vorbringen von Rechtsanwalt Sebastian Sch., soweit es die von ihm im Wege der eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemachte Behauptung anbetrifft, er habe das Aufklärungsschreiben vom 16. September 1986 erst am 16. Oktober 1986 durch Vermittlung des gegnerischen Prozeßbevollmächtigten erhalten, offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen hat. Die Nichtberücksichtigung dieses Sachvortrags wird auch nicht etwa mit der Erwägung gerechtfertigt, eine Bezugnahme in einer eidesstattlichen Versicherung reiche für eine Glaubhaftmachung nach § 294 ZPO nicht aus. Anhaltspunkte für eine solche Beurteilung finden sich im angegriffenen Beschluß an keiner Stelle. Es ist daher davon auszugehen, daß das Landgericht in einem wesentlichen Punkt das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hat.

Der angegriffene Beschluß beruht auch auf einer Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht bei vollständiger Berücksichtigung der eidesstattlichen Versicherung des Rechtsanwalts Sebastian Sch. zu einer anderen Würdigung des Wiedereinsetzungsantrags und somit im Ergebnis zu einer anderen Beurteilung der Zulässigkeit der Berufung gelangt wäre.

Da die Verfassungsbeschwerde bereits unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG begründet ist, kann offenbleiben, ob das Landgericht darüber hinaus den Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als Willkürverbot verletzt hat (vgl. BVerfGE 70, 93 ≪97≫), indem es ohne weiteren Hinweis gemäß § 139 ZPO die Berufung unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags als unzulässig verworfen hat. Auch bedarf keiner weiteren Erörterung, ob eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch darin erblickt werden kann, daß das Landgericht den innerhalb der Begründungsfrist eingegangenen Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 15. September 1986, in welchem er auf die Berufungsbegründung Bezug nahm, nicht als fristwahrend angesehen hat.

Wegen des Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG war der angegriffene Beschluß gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers ergibt sich aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1556432

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