Entscheidungsstichwort (Thema)

Zeitpunkt des Zugangs eines eingeschriebenen Briefes. Ermittlungspflicht. Nachweislast

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Zeitpunkt des Zugangs eines mittels eingeschriebenen Briefes zugestellten Schriftstücks (hier: Abholung bei der Post) und zu der insoweit bestehenden Ermittlungspflicht des Gerichts und Nachweislast der Behörde.

 

Normenkette

SGG § 63 Abs. 2; VwZG § 4 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 20.05.1987; Aktenzeichen L 4 Kr 36/85)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 28.03.1985; Aktenzeichen S 6 Kr 60/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, der seit 1980 studiert, aufgrund einer Tätigkeit als Zeitungsausträger versicherungspflichtig beschäftigt ist. Seinen Antrag vom April 1984, ihn in die Sozialversicherung der Arbeitnehmer aufzunehmen, weil seine wöchentliche Arbeitszeit über 20 Stunden liege, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. April 1984 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Versicherungsfreiheit der Werkstudenten ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 1984).

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Klage nach Beiladung der Arbeitgeberin des Klägers sowie der zuständigen Landesversicherungsanstalt (LVA) und der Bundesanstalt für Arbeit mit Urteil vom 28. März 1985 abgewiesen. Gegen dieses Urteil, das dem Kläger mittels eines am 11. April 1984 bei der Post aufgegebenen eingeschriebenen Briefes zugestellt worden ist, hat er unter dem Datum vom 12. Mai 1985 Berufung eingelegt, die beim Landessozialgericht (LSG) am 15. Mai 1985 eingegangen ist. Das LSG hat ihn zunächst mehrfach aufgefordert, die Berufung zu begründen, und ihn im Oktober 1986 gebeten, verschiedene Fragen zum Studium und zum Beschäftigungsverhältnis zu beantworten. Zweifel an der rechtzeitigen Einlegung der Berufung haben das LSG dann veranlaßt, im März 1987 das zuständige Postamt um Mitteilung zu bitten, wann dem Kläger der Einschreibebrief mit dem Urteil des SG zugestellt worden sei. Das Postamt konnte die Frage nicht beantworten, weil die Aushändigungsunterlagen für die betreffende Einschreibesendung nach 18-monatiger Aufbewahrung vernichtet worden seien. Darauf teilte das LSG dem Kläger im April 1987 mit, die Berufungsschrift sei möglicherweise um einen Tag verspätet eingegangen, und bat ihn anzugeben und "nachzuweisen", wann er den Einschreibebrief mit dem Urteil erhalten habe; ggf möge er zur Frage der verspäteten Berufungseinlegung Stellung nehmen. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger hierzu, er habe das Datum der Zustellung des SG-Urteils nicht mehr feststellen können und wisse auch nicht mehr, wann er es von der Post abgeholt habe; wahrscheinlich sei, daß er die Postsendung an dem Tage abgeholt habe, an dem er die Nachricht der Post vorgefunden habe.

Das LSG hat die Berufung des Klägers wegen verspäteter Einlegung als unzulässig verworfen. Die einmonatige Berufungsfrist habe am 14. April 1985 begonnen, da das SG-Urteil nach § 4 Abs 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) an diesem Tage, nämlich drei Tage nach Aufgabe zur Post, als zugestellt gelte und der Kläger dieses Datum "trotz Rückfrage nicht bestritten" habe. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien weder vom Kläger vorgetragen worden noch aus den Akten ersichtlich (Urteil vom 20. Mai 1987).

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht und des rechtlichen Gehörs und begründet die Rügen im wesentlichen wie folgt: Das LSG habe es pflichtwidrig unterlassen zu ermitteln, wann ihm das SG-Urteil zugestellt worden sei. Die hierzu von ihm in der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung habe das LSG zu Unrecht als "Nichtbestreiten" gewertet. Der zeitliche Ablauf spreche dafür, daß ihm das Urteil erst am 15. April 1985 zugegangen sei: Der 14. April 1985 sei ein Sonntag gewesen, an dem grundsätzlich nicht zugestellt werde. Auch der 13. April 1985, ein Samstag, scheide aus, denn nach Niederlegung einer Benachrichtigung am Samstagvormittag wäre eine Abholung des Schriftstücks am Nachmittag nicht mehr möglich gewesen. Gegen einen Zugang schon am 12. April 1985 spreche, daß er dann seine Berufungsschrift nicht erst am 12. Mai 1985, dem letzten Tag der Berufungsfrist, abgesandt hätte, sondern sie fristwahrend in den Briefkasten des SG Oldenburg hätte einwerfen können. Aber selbst wenn das SG-Urteil am 14. April 1985 als zugestellt gelten sollte, hätte ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen; denn er habe die Berufungsschrift am 12. Mai 1985 zur Post gegeben und angesichts der üblichen Postlaufzeiten darauf vertrauen dürfen, daß sie noch vor dem 15. Mai 1985 beim LSG eingehen werde. Das LSG habe aber zur Frage der Wiedereinsetzung weder Ermittlungen angestellt noch ihn auf die Möglichkeit eines entsprechenden Antrags hingewiesen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile des LSG vom 20. Mai 1987 und des SG vom 28. März 1985 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. April 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 1984 aufzuheben und festzustellen, daß er mit seiner Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1 in der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig sei, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend; sie bezweifelt die Behauptung des Klägers, er habe die Berufungsschrift am 12. Mai 1985 zur Post gegeben, da er auch die vom LSG gesetzten prozeßleitenden Fristen nicht eingehalten habe. Im übrigen hätte er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 40, 42, 45) berücksichtigen müssen, daß sich die Laufzeit seiner Postsendung wegen des verminderten oder ganz entfallenden Leerungsdienstes am Wochenende verlängere. Deshalb sei auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gerechtfertigt.

Die beigeladene LVA ist gleicher Auffassung, die übrigen Beigeladenen haben weder Anträge gestellt noch sich zur Revision geäußert.

Alle Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision des Klägers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das LSG hätte vor Verwerfung der Berufung als unzulässig ermitteln müssen, wann das Urteil des SG dem Kläger zugegangen ist.

Das LSG hat aufgrund der gesetzlichen Vermutung in § 4 Abs 1 VwZG den 14. April 1985 als den für den Beginn der Berufungsfrist maßgebenden Tag der Zustellung des SG-Urteils angenommen. Nach der genannten Vorschrift, die gemäß § 63 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet, gilt bei Zustellung durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes dieser mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als zugestellt, "es sei denn, daß das zuzustellende Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Schriftstücks und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen".

Im vorliegenden Fall ist unsicher, ob das SG-Urteil dem Kläger innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen ist, so daß die Vermutung des § 4 Abs 1 VwZG nicht Platz greift. In einem solchen Fall hat nicht der Empfänger, sondern der Absender des Schriftstückes den Tag des Zugangs nachzuweisen; er trägt also die Feststellungslast.

Hier hat das LSG nach Eingang der Berufungsschrift am 15. Mai 1985 fast zwei Jahre verstreichen lassen, bevor es dem Kläger seine Zweifel an der Rechtzeitigkeit der Berufung mitgeteilt hat. In der Zwischenzeit hatte es mit dem Kläger die Sache selbst erörtert, so daß dieser den Eindruck haben mußte, daß die Rechtzeitigkeit der Berufung für das Gericht nicht zweifelhaft sei. Unter diesen Umständen ist verständlich, daß der Kläger sich an den Tag des Empfanges des sozialgerichtlichen Urteils bei seiner Anhörung durch das LSG nicht mehr erinnern konnte. Allerdings ist ihm in Erinnerung geblieben, daß er das Schriftstück bei der Post abgeholt hat, wahrscheinlich noch am selben Tage, an dem er einen entsprechenden Benachrichtigungsschein zu Hause vorgefunden hatte.

Die Benachrichtigung durch die Post, daß ein Einschreibebrief abzuholen ist, stellt noch keine Zustellung iS von § 182 ZPO dar. Die in dieser Vorschrift geregelte Ersatzzustellung durch Niederlegung des Schriftstücks ua bei der Post ist gemäß § 3 Abs 3 VwZG nur bei Zustellung mit Zustellungsurkunde, nicht aber mittels eingeschriebenen Briefes zulässig. Hierauf weisen auch die allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum VwZG hin (Nr 6 Abs 2 Satz 2, Beilage zum Bundesanzeiger Nr 240 vom 23. Dezember 1966, S 6 ff). In Rechtsprechung und Literatur ist diese Auslegung ebenfalls herrschend (BSGE 27, 237, 239 mwN; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, RdNr 5 zu § 63 mwN). Zugestellt worden ist dem Kläger das Urteil des SG mithin erst an dem Tage, als er es bei der Post abholte. Wann dies geschehen ist, ist bisher nicht festgestellt worden. Die darüber geführten Aufzeichnungen der Post waren, als das LSG sich nach fast zwei Jahren danach erkundigte, bereits vernichtet.

Angesichts dieser Zweifel hätte das LSG entweder nach § 103 SGG weitere Ermittlungen darüber anstellen müssen, wann dem Kläger das SG-Urteil ausgehändigt worden ist, oder, wenn es solche Ermittlungen nicht für erfolgversprechend hielt, den Empfang des Urteils durch den Kläger innerhalb von drei Tagen nach seiner Aufgabe zur Post, dh bis zum 14. April 1985, nicht als nachgewiesen ansehen dürfen (§ 4 Abs 1, 2. Halbs VwZG). Keinesfalls durfte es, indem es dem Kläger aufgab, den Tag des Empfangs der Einschreibesendung "nachzuweisen", und seine Angaben bei seiner Anhörung als "Nichtbestreiten" des vom LSG angenommenen Zustellungsdatums (14. April 1985) wertete, die Feststellungslast, die das Gesetz "im Zweifel" der Behörde auferlegt, umkehren und dem Kläger überbürden.

Sollte sich nach Zurückverweisung der Sache aufgrund weiterer Ermittlungen ergeben, daß dem Kläger das Urteil vor dem 15. April 1985 ausgehändigt worden ist, wird das LSG noch prüfen müssen, ob dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 6, 1; BSG SozR Nrn 9 und 13 zu § 67 SGG) hat das Gericht von Amts wegen das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung zu klären, wenn nach Lage der Sache mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß eine Rechtsmittelfrist ohne Verschulden versäumt wurde und die für die Nachholung der versäumten Rechtshandlung geltende Monatsfrist - wie im vorliegenden Fall geschehen - nach § 67 Abs 2 Satz 3 SGG eingehalten wurde.

Sollte die Berufungsfrist am 14. Mai 1986 abgelaufen sein, wäre die Berufungsschrift nur einen Tag zu spät beim LSG eingegangen. Da diese unter dem Datum des 12. Mai 1985 geschrieben war, war mit der Möglichkeit zu rechnen, daß den Kläger kein Verschulden an der Fristversäumnis traf. Dem steht nicht entgegen, daß der 12. Mai 1985 ein Sonntag war, an dem Postbriefkästen nicht oder nur eingeschränkt geleert werden. Wenn auch der Kläger eine hierdurch bedingte Verlängerung der Laufzeit des Briefes berücksichtigen mußte (vgl BVerfGE 40, 42, 45), so hätte seine Berufung, wenn sie am 12. Mai 1985 zur Post gegeben wurde, bei normaler Postlaufzeit doch zum 14. Mai 1985 beim LSG eingehen müssen. Das LSG hat auch insoweit keine ausreichenden Ermittlungen angestellt. Es hat lediglich im Schreiben vom 10. April 1987 den Kläger gebeten, ggf - dh falls er die rechtzeitige Berufungseinlegung nicht nachweisen könne - zur Frage der verspäteten Berufungseinlegung Stellung zu nehmen. In der mündlichen Verhandlung ist nach der Sitzungsniederschrift weder die Frage des Zeitpunktes der Absendung der Berufungsschrift noch die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erörtert worden. Hierauf einzugehen hatte das LSG aber um so mehr Grund, als infolge seiner späten Anfrage bei der Post der Zustellungszeitpunkt des SG-Urteils dort nicht mehr festgestellt werden konnte und der Kläger erst nach fast zwei Jahren erfuhr, daß die Berufungsfrist möglicherweise versäumt war.

Das LSG wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.

 

Fundstellen

NJW 1991, 63

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