Anwaltshaftung: Prüfungspflicht von Mandantenangaben

Ein Anwalt darf die Angaben seines Mandanten zum Zeitpunkt der Zustellung eines Widerspruchsbescheids nicht ungeprüft übernehmen, sondern muss den Zeitpunkt der Zustellung selbst eigenverantwortlich überprüfen.

Das BVerwG hat sich in einer Grundsatzentscheidung mit den Sorgfaltspflichten des Anwalts bei der Übernahme von Angaben des Mandanten zum Zeitpunkt der Zustellung eines Widerspruchsbescheides befasst.

Zustellung des Widerspruchsbescheids an Vertreter

Der Entscheidung des BVerwG lag ein Bescheid über die Erhebung von Verschmutzungszuschlägen für stark verschmutztes Abwasser eines Unternehmens zu Grunde. Die Abweisung des seitens des Unternehmens eingelegten Widerspruchs erfolgte durch einen per Einschreiben mit Rückschein an die spätere Klägerin versandten Widerspruchsbescheids. Dieser wurde am 2.10.2017 in einem als Empfangsraum bezeichneten Bereich eines mehrstöckigen Gebäudes, in dem neben dem Unternehmen der Klägerin noch weitere Unternehmen ihren Sitz hatten, an eine dort anwesende Empfangsperson übergeben.

Unrichtiges Zugangsdatum notiert

Die für die Entgegennahme der Post eigentlich zuständige Mitarbeiterin der Klägerin war zum Zeitpunkt des Posteingangs urlaubsbedingt abwesend und fand den Widerspruchsbescheid 2 Tage später, am 4.10.2017, in ihrem Ablagefach vor. Erst diesen späteren Termin notierte sie als Datum des Zugangs. Ein Briefumschlag, der den früheren Zustellungstermin ausgewiesen hätte, war nach Darstellung der Klägerin nicht vorhanden.

Anwalt übernimmt falsches Zugangsdatum von Mandantin

Der von der Klägerin beauftragte Prozessbevollmächtigte reichte eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen die festgesetzten Verschmutzungszuschläge am letzten Tag der von ihm auf Grundlage des Eingangsvermerks der Klägerin errechneten Klagefrist ein. Das VG wies die Klage wegen Überschreitens der Klagefrist als unzulässig ab.

Erfolgreiche Berufung beim OVG

Die hiergegen eingelegte Berufung hatte beim OVG Erfolg. Das OVG bewertete die erfolgte Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid als fehlerhaft, weil sie keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Klageerhebung in elektronischer Form enthalten habe. Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO gelte für die Klageerhebung deshalb eine einjährige Frist, so dass die Klageerhebung im Ergebnis rechtzeitig erfolgt sei.

Revision erfolgreich

Die von der Beklagten eingelegte Revision hatte beim BVerwG Erfolg. Das BVerwG stellte klar, dass entgegen der Auffassung der Vorinstanz die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid nicht fehlerhaft gewesen sei. Das BVerwG verwies auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach eine Rechtsbehelfsbelehrung, die nicht auf die Möglichkeit der Übermittlung der Klage als elektronisches Dokument hinweist, nicht rechtsfehlerhaft im Sinne des § 58 VwGO ist (BVerwG, Urteil v. 25.1.2021, 9 C 8.19).

Widerspruchsbescheid mit Übergabe an Empfangsbotin zugegangen

Den von der Klägerin gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Versäumung der Klagefrist wies das BVerwG zurück. Der Widerspruchsbescheid sei der Klägerin am 2.7.2017 mit Übergabe an die im Empfangsraum anwesende Empfangsperson als Empfangsbotin rechtswirksam zugestellt worden (BFH, Beschluss v. 14.4.2016, III B 108/15). Mit der Übergabe an die Empfangsbotin sei der Bescheid derart in den Machtbereich der Klägerin gelangt, dass mit einer Kenntnisnahme durch die Klägerin zu rechnen gewesen sei (BVerwG Urteil v. 31.5.2012, 3 C 12.11).

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war der Klägerin nach Auffassung des BVerwG nicht zu gewähren, da sie nicht ohne ihr Verschulden gehindert gewesen sei, die Klagefrist einzuhalten. Der Bevollmächtigte der Klägerin habe nicht die zur Fristwahrung gebotene Sorgfalt angewandt (BVerwG, Urteil v. 21.9.2022, 8 C 12.21). Der Anwalt sei gehalten gewesen, die Richtigkeit der Angaben seiner Mandantin zum Zugang des Widerspruchsbescheids eigenverantwortlich zu prüfen und habe sich nicht auf deren Angaben verlassen dürfen, (BGH-Urteil v. 14.2.2019, IX ZR 181/17).

Anwalt zur Überprüfung der Verwaltungsakte verpflichtet

Hierbei berücksichtigte das BVerwG den Umstand, dass dem Prozessbevollmächtigten die Verwaltungsakte zur Einsichtnahme übersandt worden war. Die Übersendung sei zwar erst nach Ablauf der Klagefrist erfolgt, jedoch

  • sei ein Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO binnen 2 Wochen nach Wegfall des die Fristversäumnis verursachenden Hindernisses zu stellen.
  • Dieses Hindernis sei behoben, sobald das Fortbestehen der Verhinderung nicht mehr unverschuldet ist.
  • Nach Übersendung der Verwaltungsakte sei der Anwalt unter Anwendung der von ihm zu erwarten Sorgfalt verpflichtet gewesen, die Akte auf laufende Fristen zu überprüfen.

Frist für Wiedereinsetzungsantrag schuldhaft überschritten

Wäre der Bevollmächtigte seiner Überprüfungspflicht nachgekommen, so hätte ihm aufgrund des in der Akte befindlichen Rückscheins nach Auffassung des BVerwG der Ablauf der Frist auffallen müssen. Den Antrag auf Wiedereinsetzung habe er deutlich länger als 2 Wochen nach Erhalt der Verwaltungsakte und damit nach Ablauf der für den Wiedereinsetzungsantrag geltenden Frist des § 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO gestellt. Damit sei die Überschreitung der 2-wöchigen Frist für den Wiedereinsetzungsantrag nicht unverschuldet.

Wiedereinsetzungsantrag verfristet

Damit stand nach Auffassung des BVerwG fest, dass die Klage verfristet und der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unbegründet war. Damit war die Sache entscheidungsreif. Das BVerwG wies daher die Berufung der Klägerin gegen das ursprüngliche Urteil des VG zurück und stellte dessen Wirkung wieder her.

(BVerwG, Urteil v. 1.3.2023, 9 C 25.21)

Hintergrund:

Nahezu zeitgleich haben sich der BGH und das BVerwG in aktuellen Entscheidungen mit den Voraussetzungen eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung einer Klage- bzw. Rechtsmittelfrist befasst. Während die Entscheidung des BGH die Versäumung einer Frist infolge technischer Probleme der Kanzlei-EDV zum Gegenstand hatte (BGH, Beschluss v. 1.3.2023, XII ZB 228/22), ging es in der Entscheidung des BVerwG um die Versäumung der Klagefrist infolge unrichtiger Angaben des Mandanten zum Zeitpunkt der Zustellung eines Widerspruchsbescheids. In beiden Fällen haben die Gerichte die Sorgfaltspflichten des Anwalts bei der Einhaltung von Rechtsbehelfsfristen im Sinne einer strengen Auslegung präzisiert.