Leitsatz (amtlich)

1. Läßt ein Empfänger von Postsendungen diese durch einen Bediensteten bei der Post abholen, so ist ihm eine Einschreibsendung erst zugegangen, wenn sie dem Postabholer gegen Vorlage des von der Post ausgestellten, vom Postbevollmächtigten unterschriebenen Ablieferungsscheins ausgehändigt worden ist. Der Gegenbeweis gegen die Unrichtigkeit des auf diese Empfangsbestätigung gesetzten Datums ist zulässig.

2. Zur Nachprüfbarkeit eines - autonomes Recht darstellenden - Gefahrtarifs eines Unfallversicherungsträgers, wenn Streit über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts besteht, der die Veranlagung eines Unternehmens zur Gefahrklasse zum Inhalt hat.

3. Entspricht nach Ansicht eines Unfallversicherungsträgers die Zuteilung einer bestimmten Art von Unternehmen zu einer im Gefahrtarif festgesetzten Gefahrklasse nicht dem Grad der durch diese Gefahrklasse zum Ausdruck gebrachten Unfallgefährdung, so darf der Versicherungsträger dies nicht durch Ermäßigung der Gefahrklasse bei der Veranlagung der einzelnen Unternehmen richtigzustellen versuchen; er muß vielmehr im Gefahrtarif für diese Unternehmensart die Gefahrklasse anders, nämlich nach dem Grad der Unfallgefahr, bestimmen.

 

Normenkette

RVO § 730 Fassung: 1963-04-30, § 734 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; VwZG § 4 Abs. 1

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Januar 1965, das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 22. Juni 1964 sowie der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 14. März 1963 werden aufgehoben.

Der Bescheid der Beklagten vom 17. Juli 1962 wird insoweit aufgehoben, als die Klägerin wegen der von ihr betriebenen Kreidegrube zur Gefahrklasse veranlagt worden ist.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin, welche als Hauptbetrieb die Zementfabrikation und als Nebenbetriebe die Kalkfabrikation sowie die Kreide- und Tongewinnung und eine Landwirtschaft betreibt, hinsichtlich der Kreidegrube im Jahre 1962 von der Beklagten rechtmäßig zur Gefahrklasse veranlagt worden ist.

In dem von der Vertreterversammlung am 15. November 1961 beschlossenen, vom Bundesversicherungsamt am 19. Dezember 1961 genehmigten, zum 1. Januar 1962 in Kraft gesetzten Gefahrtarif der Beklagten ist die Kreidegewinnung nicht namentlich unter den zu den Gefahrklassen zugeteilten Betriebsarten bezeichnet. Die Beklagte sieht sie, wie sie in ihren dem Bundesversicherungsamt zwecks Genehmigung des Gefahrtarifs eingereichten Unterlagen ausgeführt hat, als Gewinnung von dem Kalkstein ähnlichem Gestein an. Unternehmen dieser Art sind ebenso wie die Gewinnung von Kalkstein im Teil I des Gefahrtarifs, in dem die Zuteilung der Unternehmen zu den Gefahrklassen geregelt ist, in die Gefahrtarifstelle 2 eingeordnet. Die in dieser Gefahrtarifstelle zusammengefaßten Unternehmen sind zur Gefahrklasse 16 zu veranlagen. Im Teil II des Gefahrtarifs, der die "sonstigen Bestimmungen" enthält, ist in der Nr. 1 zum Ausdruck gebracht, daß die im Teil I festgesetzten Gefahrklassen für Betriebe mit regelrechten Betriebsverhältnissen, guten Einrichtungen und allen üblichen und durch die Unfallverhütungsvorschriften angeordneten Schutzvorkehrungen gelten. In der Nr. 2 des Teils II ist in deren Abs. 1 bestimmt, daß "die Berufsgenossenschaft" die Gefahrklasse bis zu 50 v. H. erhöhen oder herabsetzen kann, wenn im Einzelfall für einen Betrieb gegenüber Betrieben der gleichen Gefahrklasse erheblich größere oder geringere Gefahren vorliegen. Nach dem Abs. 2 liegt eine Gefahrerhöhung auch vor, wenn im Interesse der Unfallverhütung getroffene Anordnungen der Berufsgenossenschaft nicht befolgt werden oder wenn sie aufgrund der Verhältnisse des Betriebes nicht vor Ablauf eines Jahres erfüllt werden können. In der Nr. 3 des Teils II des Gefahrtarifs ist vorgesehen, daß für Betriebe, deren Gewerbezweig im Teil I nicht aufgeführt ist, "die Berufsgenossenschaft" die Gefahrklasse festsetzt, für fremdartige Nebenbetriebe-bei der Klägerin ist dies die Tongewinnung - nach Maßgabe der Beitragshöhe der Berufsgenossenschaft, der sie als Hauptbetrieb angehören würden.

Durch den - vom Hauptgeschäftsführer unterzeichneten - Bescheid vom 17. Juli 1962 wurde die Klägerin wegen ihrer Betriebe wie folgt zu den Gefahrklassen veranlagt:

Gewerbezweig

Gefahrtarifstelle

Gefahrklasse

Zementfabrik einschl. Landwirtschaft

15   

7       

Gräberei auf Kreide

2       

16   

Ermäßigung der Gefahrklasse,

- 3

weil gegenüber Betrieben der gleichen Gefahrklasse insoweit geringere Gefahren vorliegen, als insbesondere Sprengarbeiten entfallen und nicht am Haufwerk gearbeitet zu werden braucht.

= 13

Aufbereitung

14   

6       

Gewinnung von Ton

II 3

5,5

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, daß die Beklagte unzutreffend wohl davon ausgegangen sei, beim Abbau von Kreide handele es sich um die Gewinnung von Kalk stein und ähnlichem Gestein . Indessen seien Kreide und Ton von derselben Beschaffenheit, beide würden mit Eimerbaggern gefördert; somit sei der Grad der Unfallgefährdung in beiden Gewinnungsarten gleich hoch.

Die Beklagte wies am 14. März 1963 den Widerspruch aus folgenden Erwägungen zurück:

Die Klägerin verkenne gewisse Grundlagen des Gefahrtarifwesens. Für die Gewinnung der Kreide sei sie - die Beklagte - a priori zuständig. In Kenntnis der Tatsache, daß es sich nicht um die Gewinnung von Kalkstein handele, müsse die Veranlagung doch nach der für diese Gewinnungsart geltenden Gefahrklasse - wie schon immer - erfolgen, weil die Ausrichtung ihres Gefahrtarifs nach geologischen Gegebenheiten erfolgt sei und Kreide und Kalk noch verwandt seien. Beides werde zudem von Zementwerken für den gleichen Verwendungszweck gewonnen. Eine entsprechende Zuordnung habe schon immer bestanden und sei auch beibehalten worden, da sich aus der Gefahrenlage eine anderweitige Zuordnung nicht aufdränge. Die bei der Kreidegewinnung gegenüber der Kalksteingewinnung geringeren Gefahren würden dadurch berücksichtigt, daß gemäß Teil II Nr. 2 des Gefahrtarifs eine Ermäßigung gewährt werde. Für die Gewinnung von Ton sei an sich die Berufsgenossenschaft der keramischen und Glas-Industrie zuständig. Bei der Veranlagung könne sie - die Beklagte - sich nicht an die tatsächliche Gefahrenbelastung halten, sondern sei gemäß Teil II Nr. 3 des Gefahrtarifs gehalten, ihre Mitglieder so zu veranlagen, daß im Ergebnis für diese fremdartigen Nebentätigkeiten der gleiche Beitrag zu entrichten sei, der zu entrichten wäre, wenn diese Tätigkeiten bei jener Berufsgenossenschaft versichert wären. Auf die tatsächlichen Aufwendungen und damit auf die Gefährlichkeit der Tätigkeiten komme es bei fremdartigen Nebentätigkeiten bestimmungsgemäß nicht an. Daher ergebe sich für die Tongewinnung eine im Vergleich zu den bei ihr - der Beklagten - geltenden Gefahrklassen deutlich abweichende Veranlagung; hieraus könnten sonach keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Unfallgefährdung durch die Kreidegewinnung gezogen werden.

Die für die Klägerin bestimmte Ausfertigung des Widerspruchsbescheides wurde am 26. April 1963 mit Einschreibbrief zur Post gegeben. Die Klägerin läßt ihre Post durch einen Boten abholen. Da dieser keine Postvollmacht besitzt, gab ihm der Schalterbeamte am 29. April 1963 eine Empfangsbescheinigung für Einschreibsendungen mit dem Poststempel dieses Tages mit. Der Postbevollmächtigte der Klägerin unterschrieb diese Empfangsbestätigung noch an demselben Tag. Als der Bote am folgenden Tag wieder zur Post ging, händigte ihm der Postbeamte gegen Vorlage der unterschriebenen Empfangsbestätigung den Einschreibebrief aus. Die Ausfertigung des Widerspruchsbescheides wurde von der Klägerin mit dem Eingangsstempel des 30. April 1963 versehen.

Mit Schreiben vom 30. Mai 1963, das an diesem Tag beim Sozialgericht (SG) Itzehoe eingegangen ist, hat die Klägerin Klage erhoben. Diese hat das SG durch Urteil vom 22. Juni 1964 als unzulässig verworfen. Das Erstgericht sieht die Klage als versäumt an:

Der Widerspruchsbescheid sei der Klägerin am 29. April 1963 zugegangen gewesen, weil sie bereits an diesem Tag die Möglichkeit gehabt habe, sich den Besitz des Einschreibbriefs zu verschaffen. Ein Grund zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht gegeben.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 11. Januar 1965 die Berufung der Klägerin mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Klage als unbegründet abzuweisen sei.

Zur Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt:

Nach § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) gelte der Widerspruchsbescheid zwar am 29. April 1963 als zugestellt. Der Klägerin sei dieser Bescheid in Wirklichkeit aber erst am folgenden Tag zugegangen. Auf das Datum des der Post vorliegenden Empfangsbekenntnisses könne nicht abgestellt werden, weil dieses nicht die Aushändigung des Widerspruchsbescheides, sondern einen ihr zeitlich vorausgehenden Vorgang beweise. Dem Postabholer der Klägerin sei am 29. April 1963 eine entsprechend vorbereitete Empfangsbestätigung mitgegeben worden, damit diese vom Postbevollmächtigten unterschrieben werde. Dadurch sei der Widerspruchsbescheid aber noch nicht derart in den Verfügungsbereich der Klägerin gelangt, daß es allein an ihr gelegen hätte, ob sie vom Inhalt des Widerspruchsbescheides habe Kenntnis nehmen wollen. Die Klägerin sei nicht verpflichtet gewesen, die Einschreibsendung noch am 29. April 1963 ohne Rücksicht auf die Gepflogenheiten des Postabholdienstes und der postamtlichen Öffnungszeiten bei der Post abzuholen. Der Eingangsstempel der Klägerin spreche dafür, daß der Widerspruchsbescheid dem Postabholer der Klägerin am 30. April 1963 ausgehändigt worden sei. Erst an diesem Tag sei der Widerspruchsbescheid der Klägerin zugegangen. Die Klage sei somit rechtzeitig.

Sie sei jedoch nicht begründet. Beim Gefahrtarif handele es sich um autonomes Recht des Versicherungsträgers. Wie sonstige Rechtsetzungsakte könne der Gefahrtarif nur in beschränktem Umfang durch das Gericht nachgeprüft werden, insbesondere bei Verfassungswidrigkeit, Überschreitung der gesetzlich eingeräumten Autonomie oder gesetzwidrigem Zustandekommen. Bedenken dieser Art habe die Klägerin nicht geltend gemacht und seien auch nicht ersichtlich. Daher sei nur zu prüfen gewesen, ob die Gräberei auf Kreide einem der im Teil I des Gefahrtarifs aufgeführten Gewerbezweige zuzuordnen sei und gegebenenfalls die Beklagte das ihr in Teil II Nr. 2 des Gefahrtarifs eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe. Da die Kreide die gleiche chemische Zusammensetzung wie der Kalkstein habe, sei die Kreidegewinnung zutreffend in die Gefahrtarifstelle 2 eingeordnet, zumal da weder aus dem allgemeinen Sprachgebrauch noch aus der geschichtlichen Entwicklung der bei den verschiedenen Berufsgenossenschaften zusammengefaßten Gewerbezweige auf das Gegenteil geschlossen werden könne. Das Vorbringen der Klägerin, die Kreidegewinnung sei angesichts der im Vergleich zur Kalksteingewinnung erheblich geringeren Gefahrenlage in den Gefahrtarif unrichtig eingeordnet worden, könne angesichts der Rechtsnatur des Gefahrtarifs als autonomes Recht nur dahin überprüft werden, ob die Beklagte entsprechend der Nr. 2 des Teils II des Gefahrtarifs die Gefahrklasse in ausreichendem Maß herabgesetzt habe. Die Beklagte habe, indem sie eine Ermäßigung um 3 Klassen gewährt habe, das ihr insoweit eingeräumte Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt. Sie habe zutreffend darauf hingewiesen, daß Sprengarbeiten, die bei der Gräberei auf Kreide entfielen, zwar gefährlich seien, aber wegen der scharfen Sicherheitsbestimmungen nur zu verhältnismäßig wenig Arbeitsunfällen führten, diese vielmehr in der Hauptsache - wie bei der Kalksteingewinnung auch - bei Förder- und Transportvorgängen einträten.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es durch ihren Prozeßbevollmächtigten im wesentlichen wie folgt begründet:

Das Berufungsgericht habe nicht geprüft, ob der Gefahrtarif der Beklagten mit dem Gesetz übereinstimme. Danach seien die Gefahrklassen nach dem Grad der Unfallgefahr zu bilden. Die Beklagte habe in ihrem Gefahrtarif keine eigene Gefahrtarifstelle für die Kreidegewinnung geschaffen, sondern sei davon ausgegangen, daß Kalkstein und Kreide geologisch zusammengehörten. Dieser Gesichtspunkt dürfe aber keine Rolle spielen, denn der Gefahrtarif sei lediglich nach dem Grad der Unfallgefahr aufzustellen. Die Beklagte begründe die Zusammenfassung der Kalkstein- und Kreidegewinnung in einer Gefahrtarifstelle trotz der bei beiden Gewinnungsarten erheblich voneinander abweichenden Gefährdung damit, daß nur wenige Betriebe Kreide abbauten und deshalb für diese Gewinnungsarten keine besondere Gefahrtarifstelle gebildet werden könne. Damit gebe die Beklagte zu, daß die von ihr vorgenommene Zuteilung der Kreidegewinnung nicht der wirklichen Gefahrenlage entspreche. Der Gefahrtarif der Beklagten sei deshalb insoweit ohne Rechtswirkungen. Das Berufungsgericht hätte entweder ihrer - der Klägerin - von der Beklagten nicht bestrittenen Behauptung, daß die Gefahrenlage bei der Kreide- und Tongewinnung dieselbe sei, folgen und der Klage stattgeben oder über diese Frage Beweis erheben müssen.

Selbst wenn der Gefahrtarif der Beklagten rechtsgültig sei, hätte diese angesichts des Grades der tatsächlich gegebenen Gefährdung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedenfalls die ihr mögliche volle Ermäßigung der Gefahrklasse gewähren müssen.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Für die Rechtsgültigkeit des Gefahrtarifs spreche dessen Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde, die erst nach eingehender Prüfung erteilt worden sei. Die Kalkstein- und Kreidegewinnung sei in ihrem Gefahrtarif seit 1908 in einer Gefahrtarifstelle zusammengefaßt. Daran habe sich nichts geändert, als in dem seit dem 1. Januar 1962 geltenden Gefahrtarif dieser Gewerbezweig wegen seiner Bedeutungslosigkeit nicht mehr namentlich aufgeführt worden sei.

Die Klägerin beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen sowie den Widerspruchsbescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, in Abänderung ihres Bescheides vom 17. Juli 1962 einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den die Gräberei auf Kreide in die Gefahrklasse 5,5 eingestuft wird,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Der Senat hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor.

Die Revision ist begründet.

Zutreffend hat das Berufungsgericht die Klage als rechtzeitig angesehen. Nach § 85 Abs. 3 Satz 1, § 63 Abs. 2 SGG war die Beklagte verpflichtet, ihren Widerspruchsbescheid der Klägerin zuzustellen. Sie hat die Zustellungsart der Zusendung durch Einschreibbrief gewählt. Wie das LSG mit Recht angenommen hat, ist der Widerspruchsbescheid der Klägerin am 30. April 1963 zugegangen (§ 4 Abs. 1 VwZG). Erst an diesem Tage ist er nämlich in ihre tatsächliche Verfügungsgewalt (vgl. hierzu BSG 25, 31, 32; BSG in KOV 1967, 31) gelangt. Weder durch die Aushändigung des Ablieferungsscheins an ihren täglich zweimal bei der Post erscheinenden Postabholer (§§ 44 Abs. 8 der - bis zum 31. Juli 1965 geltenden - Postordnung vom 30. Januar 1929, RGBl. I S. 33) noch durch die Unterschrift ihres Postbevollmächtigten auf dieser Empfangsbestätigung hat die Klägerin bereits die Verfügungsgewalt über den Widerspruchsbescheid erlangt (ähnlich SozR Nr. 5 zu § 4 VwZG; BAG 13, 313, 316; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Stand 15.5.1967, Band I, S. 236 p). Vielmehr ist dies erst mit der Aushändigung der Einschreibsendung am 30. April 1963 an den Postabholer der Klägerin der Fall gewesen. Zwar ist im Ablieferungsschein als Datum des Empfangs der Postsendung der 29. April 1963 unterschriftlich bestätigt. Den gegen die Unrichtigkeit dieses Datums zulässigen Gegenbeweis hat das Berufungsgericht indessen mit Recht als geführt angesehen (vgl. zu ähnlichen Vorschriften: SozR Nr. 4 zu § 5 VwZG und das Urteil des BSG vom 31. Mai 1967 - 12 RJ 80/66; zu § 212 a ZPO: BGHZ 35, 236, 238; BayObLG JR 1967 347).

Die Klage ist auch - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts -- begründet.

Zutreffend ist das LSG allerdings davon ausgegangen, daß der Gefahrtarif seiner Rechtsnatur nach autonomes Recht des betreffenden Unfallversicherungsträgers ist. Er bildet kraft Gesetzes (§ 706 der Reichsversicherungsordnung in der vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes geltenden Fassung - RVO aF; § 725 RVO nF) eine der - von der Selbstverwaltung beschlossenen - Rechtsgrundlagen, aufgrund deren die Verwaltung des Versicherungsträgers die diesem als Mitglieder angehörenden Unternehmer zur Beitragsleistung heranzieht. Im Rahmen der dem Versicherungsträger gesetzlich verliehenen Autonomie wird der Gefahrtarif von dem zuständigen Organ der Selbstverwaltung mit Rechtswirksamkeit für die in einer Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Unternehmer erlassen. Er ist somit objektives Recht (vgl. BVerfG 10, 20, 50; BVerwG 7, 30, 32; Brackmann, aaO, Band I, S. 154 h IV; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 2 zu § 730 RVO; Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 5 zu § 730 RVO). Deshalb ist der Gefahrtarif, ungeachtet der autonomen Rechtsetzungsbefugnis des Versicherungsträgers, bei Streit über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts, der die Veranlagung eines Unternehmens zu einer bestimmten Gefahrklasse zum Inhalt hat, durch die Gerichte auf seine Rechtsgültigkeit nachzuprüfen (Podzun, BG 1957, 249, 250; a. M. Wicke, BG 1953, 135, 136). Dies wird vor allem geboten sein, wenn sich für das Gericht Anhaltspunkte ergeben oder die Rechtsungültigkeit des Gefahrtarifs von einem Beteiligten geltend gemacht wird. Die richterliche Nachprüfung erstreckt sich insbesondere darauf, ob er Normen höherrangigen Rechts verletzt und - worüber die Satzung des Versicherungsträgers das Nähere zu bestimmen hat (§ 677 Nr. 4 RVO aF, § 671 Nr. 5 RVO nF) - ordnungsgemäß zustande gekommen ist (vgl. BVerwG 7, 30, 32; 10, 224, 225; Merk, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Band, S. 325; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Band, 9. Aufl., S. 137, 132). Ähnlich wie dem Gesetzgeber (vgl. BVerfG 8, 71, 80; 10, 89, 102; 11, 105, 123) ist auch den ihre Angelegenheiten selbst regelnden öffentlich-rechtlichen Körperschaften als Stellen der mittelbaren Staatsverwaltung und somit auch den Trägern der Sozialversicherung ein nicht zu eng bemessener Spielraum eingeräumt, soweit sie innerhalb der ihnen erteilten gesetzlichen Ermächtigung Recht setzen (BVerwG 7, 30, 32; 10, 224, 225; Stich JuS 1964, 333, 339). Der Senat verkennt deshalb nicht, daß im Gefahrtarif Zusammenfassungen unterschiedlicher Gewinnungsarten in einer einzigen Gefahrtarifstelle je nach den gebotenen Umständen angezeigt sein können und dies allein noch nicht zu rechtlichen Bedenken Anlaß gibt. Dies setzt allerdings voraus, daß eine derartige Regelung mit dem übergeordneten Recht in Einklang steht. Nach Auffassung des Senats ist dies bei dem seit 1. Januar 1962 angewendeten Gefahrtarif der Beklagten, der, da sich sein Geltungsbereich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt, revisibles Recht ist (§ 162 Abs. 2 SGG), jedoch nicht der Fall, soweit es sich um die Einordnung der Mitgliedsunternehmen, welche nach Kreide graben, in die Gefahrtarifstelle 2 und damit um die Zuteilung zur Gefahrklasse 16 handelt.

Wie sich aus den zwecks Genehmigung des Gefahrtarifs durch die Aufsichtsbehörde dem Bundesversicherungsamt eingereichten Unterlagen der Beklagten, aus dem Widerspruchsbescheid sowie aus ihrer Gegenäußerung in der Revision ergibt, ist sie bei Aufstellung des Gefahrtarifs davon ausgegangen, daß die Gräberei auf Kreide als Gewinnung von dem Kalkstein "ähnlichem Gestein" anzusehen und deshalb in die Gefahrtarifstelle 2 mit der Folge einzuordnen ist, daß diese Unternehmen an sich zur Gefahrklasse 16 zu veranlagen sind. An dieser Ansicht hält die Beklagte auch im Revisionsverfahren fest. Die Einordnung dieser Art von Unternehmen in die Gefahrtarifstelle 2 bildet die Grundlage für den der Klägerin erteilten Veranlagungsbescheid. Da die Gräberei auf Kreide somit bereits nach dem Teil I des Gefahrtarifs zur Gefahrklasse zugeteilt ist, scheidet eine Festsetzung der Gefahrklasse nach Teil II Nr. 3 des Gefahrtarifs durch "die Berufsgenossenschaft" im Falle der Klägerin aus.

Wie die Beklagte in ihre Widerspruchsbescheid näher dargetan hat, sind für die Einordnung der Kreidegruben in die Gefahrtarifstelle 2 schon seit jeher vorwiegend "geologische Gegebenheiten", nämlich die nahe Verwandtschaft von Kalkstein und Kreide, sowie außerdem der Umstand bestimmend gewesen, daß Kreide und Kalkstein von Zementwerken für den gleichen Verwendungszweck abgebaut werden. Ob diese Erwägung bei Aufstellung eines Gefahrtarifs dem Auftrag des Gesetzes (§ 706 RVO aF, § 730 RVO nF), Gefahrklassen nach dem Grad der Unfallgefahr zu bilden, gerecht wird, erscheint nicht unbedenklich, selbst wenn man berücksichtigt, daß die geologische Zusammensetzung einer Gesteinsart Schlüsse auf die bei ihrer Gewinnung auftretenden Gefahren zuläßt. Bei der Bildung der Gefahrklassen dürfen nicht minder die Gefahren, die sich infolge der bei der Gewinnung des Gesteins angewendeten Abbaumethoden und der hierbei eingesetzten technischen Hilfsmittel für die im Unternehmen Beschäftigten ergeben, außer acht gelassen werden. Die Beklagte hat den Gesichtspunkt der Unfallgefährdung, wie sich aus ihrem Widerspruchsbescheid sowie aus ihrem Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits ergibt, zwar gewürdigt. Sie hat jedoch diesen Gefahren bei der Zuteilung der Gefahrklasse für die Unternehmen, welche nach Kreide graben, nicht in einer dem Willen des Gesetzes entsprechenden Weise Rechnung getragen. Zwar hat sie im Widerspruchsbescheid einerseits dargelegt, daß sich aus der Gefahrenlage eine Einreihung dieser Art von Unternehmen in eine andere Gefahrtarifstelle nicht aufdränge. Andererseits hat sie jedoch eingeräumt, daß die Gefahr beim Abbau der Kreide geringer ist als bei der Kalksteingewinnung. Die Beklagte meint, dies in der Weise richtigstellen zu können, daß sie bei der Veranlagung des einzelnen Unternehmens, welches die Gräberei auf Kreide betreibt - so auch bei der Klägerin -, die Gefahrklasse niedriger einstuft, diese Gewinnungsart aber weiterhin in der Gefahrtarifstelle 2 beläßt. Sie glaubt, hierzu nach der Nr. 2 des Teils II des Gefahrtarifs berechtigt zu sein. Nach ihrem eindeutigen Wortlaut setzt diese Bestimmung des Gefahrtarifs in ihrem Abs. 1 aber voraus, daß "im Einzelfall" für einen Betrieb gegenüber Unternehmen derselben Gefahrklasse erheblich größere oder geringere Gefahren vorliegen. Es muß also - in Abweichung von der in der Nr. 1 des Teils II aufgestellten Regel, daß die im Teil I zugeteilten Gefahrklassen für Betriebe mit regelrechten Betriebsverhältnissen, guten Einrichtungen und allen üblichen und durch die Unfallverhütungsvorschriften angeordneten Schutzvorkehrungen gelten - bei einem einzelnen Unternehmen eine Betriebsweise vorhanden sein, die von der bei dem betreffenden Gewerbezweig üblichen nicht unerheblich abweicht und zu einer gegenüber dem Durchschnitt nicht unwesentlich geminderten oder erhöhten Gefahrenlage führt (Gefahrerhöhung oder-Minderung aufgrund objektiver Betriebsmerkmale - RVA AN 1888, 199, 204 Nr. 7; 1898, 262, 263; Hartmann, Das Gefahrentarifwesen und die Beitragsberechnung der Unfallversicherung des Deutschen Reiches, 1913, S. 7, 35 ff, 60). Eine Herabsetzung der Gefahrklasse könnte angezeigt sein, wenn ein Unternehmen im Vergleich zu gleichartigen Betrieben andersartige Abbaumethoden anwendet, durch welche die Unfallgefährdung erheblich gemindert wird; da ein solches Ergebnis meist nur durch einen gesteigerten wirtschaftlichen Aufwand zu erzielen sein wird, erscheint es gerechtfertigt, dem durch Einstufung dieses Unternehmens in eine niedrigere Gefahrklasse Rechnung zu tragen. Eine Gefahrerhöhung nach subjektiven Betriebsmerkmalen und dementsprechend eine Einstufung des betreffenden Unternehmens in eine höhere Gefahrklasse sieht Abs. 2 der Nr. 2 des Teils II des Gefahrtarifs der Beklagten in gewissen Fällen vor (s. hierzu RVA, AN 1898, 262, 263). Entscheidend für die Anwendung der Nr. 2 des Teils II des Gefahrtarifs der Beklagten ist sonach, daß bei einem bestimmten Unternehmen besondere betriebliche Gegebenheiten vorliegen und deshalb eine von der Regel des Teils I des Gefahrtarifs abweichende Veranlagung dieses Unternehmens durch die Beklagte als gerechtfertigt angesehen wird. Die Beklagte hat jedoch, wie der Begründung des Widerspruchsbescheides zu entnehmen ist, ganz allgemein - nicht bloß bei der von der Klägerin betriebenen Kreidegrube - angenommen, daß die in ihrem Mitgliederverzeichnis aufgeführten Kreidegruben nicht so hohe Gefahren verursachen, wie die Betriebe der Kalksteingewinnung. Eine Herabsetzung der Gefahrklasse nach der Nr. 2 des Teils II des Gefahrtarifs aus den von der Beklagten angeführten allgemeinen Gründen minderer Gefahr war somit im Falle der Klägerin nicht zulässig. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, welche Stelle der Beklagten zu einer Änderung der Gefahrklasse nach dieser Bestimmung des Gefahrtarifs, die durch "die Berufsgenossenschaft" zu erfolgen hat, befugt ist.

Da die Beklagte selbst davon ausgeht, da die Veranlagung der in ihrem Unternehmerverzeichnis eingetragenen Gräbereien auf Kreide zur Gefahrklasse 16 nicht rechtens ist, weil die für die Betriebe dieser Unternehmensart allgemein gegebene Unfallgefahr nicht der in dieser Gefahrklasse zum Ausdruck gebrachten Unfallgefährdung entspricht, ist Teil I ihres Gefahrtarifs rechtsunwirksam, soweit Gräbereien auf Kreide in die Gefahrtarifstelle 2 als Unternehmen der Gewinnung von dem Kalkstein ähnlichem Gestein eingeordnet sind. Der Gefahrtarif der Beklagten verstößt insoweit gegen den Auftrag des Gesetzes, Gefahrklassen nach dem Grad der Unfallgefahr zu bilden (§ 706 RVO aF, § 730 RVO nF). Die Genehmigung des Gefahrtarifs durch das Bundesversicherungsamt steht der gerichtlichen Feststellung der teilweisen Rechtsunwirksamkeit des Gefahrtarifs nicht entgegen, weil dessen Rechtsmangel durch die Genehmigung der Aufsichtsbehörde nicht geheilt werden konnte (Brackmann, aaO, S. 154 h IV; Peters, Lehrbuch der Verwaltung, S. 79; Merk, aaO, S. 325; v. Turegg/Kraus, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 4. Aufl., S. 71; Kiess, Rechtsverordnung und Satzung, Diss, Tübingen, 1961, S. 84).

Da der von der Beklagten beschrittene Weg, die nicht dem Grad der Unfallgefahr entsprechende Gefahrklasse nach der Nr. 2 des Teils II des Gefahrtarifs herabzusetzen, nicht statthaft ist, entbehrt der Bescheid der Beklagten vom 17. Juli 1962 der Rechtsgrundlage, soweit er die Klägerin wegen der von ihr betriebenen Kreidegrube zur Gefahrklasse veranlagt hat. Er war deshalb insoweit als rechtswidrig aufzuheben. Der Widerspruchsbescheid und die Urteile der Vorinstanzen waren dagegen in vollem Umfang aufzuheben.

Eine erneute Veranlagung der Klägerin setzt voraus, daß die Beklagte zuvor in ihrem Gefahrtarif eine gesetzmäßige Zuteilung der Betriebe der Kreidegewinnung zur Gefahrklasse vornimmt. Dabei ist es nicht unbedingt erforderlich, wegen dieser Art von Betrieben eine eigene Gefahrtarifstelle zu bilden, wenn - wie die Beklagte behauptet - infolge ihrer geringen Zahl keine echte Gefahrengemeinschaft gebildet werden kann (vgl. auch RVA. AN 1896, 275, 276). Da der Gefahrtarif sich ohnehin eher wie ein Belastungstarif auswirkt (Hartmann, aaO, S. 7, 11; Meesmann, BG 1928, 73, 75; 1930, 121; Homey, BG 1952, 28, 30; Nimz, BG 1955, 161; Wicke, aaO; BG 1955, 341; Lauterbach, aaO, Anm. 3 b zu § 730 RVO), ist die Beklagte nicht gehindert, die Kreidegewinnung mit Betriebsarten, bei denen die Gefahrenlage eine ähnliche ist, in einer Gefahrtarifstelle zusammenzufassen, auch wenn das von diesen Betrieben gewonnene Gestein keine geologische Verwandtschaft mit der Kreide aufweist.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 237

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