Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückforderung einer überzahlten Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung von den Erben eines verstorbenen Ehegatten eines zuvor verstorbenen Sozialleistungsbeziehers. Erforderlichkeit einer pflichtgemäßen Ermessensausübung bei der Auswahl des in Anspruch genommenen Gesamtschuldners im Rahmen der Rückforderung bei Mehrheit von Erben

 

Normenkette

BGB §§ 421, 426, 1922, 1967, 2058; SGB X §§ 35, 50, 66; VwVG §§ 2-3; ZPO § 780

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 14.12.2021; Aktenzeichen L 2 R 411/18)

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 29.10.2018; Aktenzeichen S 4 R 489/16)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Klägerin als Miterbin für eine Rückforderung in Anspruch nehmen darf, die gegenüber der verstorbenen Ehefrau ihres nachverstorbenen Vaters (im Folgenden: Versicherte) festgesetzt wurde.

Die 1941 geborene Versicherte bezog seit 2001 eine Altersrente für Frauen und erzielte Einkommen oberhalb der Grenze eines anrechnungsfreien Hinzuverdiensts. Gegen einen von der Beklagten erlassenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid in Höhe von 5230,45 Euro (Bescheid vom 14.7.2006 in der Fassung des Bescheids vom 27.12.2006; Widerspruchsbescheid vom 16.4.2007) erhob sie Klage. Nach ihrem Tod führte ihr Ehemann, der neben der gemeinsamen Tochter gesetzlicher Erbe der Versicherten geworden war, das Verfahren fort. Das SG wies die Klage ab (Gerichtsbescheid vom 30.7.2012). Nach dem Tod des Ehemannes der Versicherten legte die gemeinsame Tochter Berufung vor dem LSG ein. Die Klägerin, nichteheliche Tochter des verstorbenen Vaters, trat dem Rechtstreit bei. Sie und ihre Halbschwester sind nach dem auf sie ausgestellten Erbschein je zur Hälfte Erbinnen ihres Vaters. Das LSG wies die Berufung mit Urteil vom 29.1.2016 zurück.

Im Anschluss an dieses Verfahren machte die Beklagte gegenüber der Klägerin und ihrer Halbschwester jeweils die Hälfte der Gesamtforderung geltend (Schreiben vom 8.6.2016). Anders als ihre Miterbin lehnte die Klägerin eine Zahlung ab. Sie erhob Einreden wegen Dürftigkeit und Unzulänglichkeit des Nachlasses, Entreicherung sowie Verjährung und machte die Haftungsbeschränkung gemäß § 780 ZPO geltend. Zudem verwies sie darauf, dass sie nicht Erbin der Versicherten sei. Die Beklagte verpflichtete die Klägerin mit Bescheid vom 23.6.2016 zur Zahlung von 2615,22 Euro. Die zu Unrecht gezahlten Rentenbeträge seien im Rahmen der Erbenhaftung zu erstatten. Als Teilerbin hafte sie gemäß § 421 BGB als Gesamtschuldner. Jeder Teilerbe könne nach Belieben zum Ausgleich der Forderung in Anspruch genommen werden. Die Tochter der Versicherten habe den hälftigen Anteil überwiesen, sodass die Klägerin den genannten Betrag zu zahlen habe. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 1.9.2016).

Das SG hat der Klage stattgegeben und den angefochtenen Bescheid aufgehoben (Urteil vom 29.10.2018). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 14.12.2021). Der Bescheid sei fehlerhaft, weil die Beklagte bei der Inanspruchnahme der Gesamtschuldner kein Ermessen ausgeübt habe. Das "freie Belieben" des Gläubigers bei der Auswahl der Schuldner im Rahmen des § 421 BGB werde bei mehreren Haftenden auf öffentlich-rechtlicher Grundlage durch das Gebot pflichtgemäßer Ermessensausübung modifiziert. Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung lägen nicht vor.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 50 SGB X iVm § 421 BGB sowie § 39 SGB I. Ein Auswahlermessen bestehe nicht. Dem stehe nicht zuletzt die Verwaltungspraktikabilität entgegen, zumal die Erben nicht zu einer Mitwirkung verpflichtet seien. Selbst wenn Ermessen auszuüben wäre, wären nur das Willkürverbot und offenbare Unbilligkeiten zu berücksichtigen. Dem werde die von ihr getroffene Entscheidung gerecht.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Dezember 2021 sowie des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. Oktober 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat der Berufung der Beklagten zu Recht den Erfolg versagt.

1. Einer notwendigen Beiladung der weiteren Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Vaters der Klägerin zu dem Rechtsstreit bedurfte es nicht. Nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG sind Dritte notwendig beizuladen, wenn sie an einem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Die Klägerin und ihre Halbschwester haften als Erbinnen ihres Vaters für dessen Nachlassverbindlichkeiten gemäß §§ 1922, 1967, 2058 BGB als Gesamtschuldner (§§ 421, 426 BGB). Eine gesamtschuldnerische Haftung trifft jeden Gesamtschuldner gesondert und bewirkt nicht, dass das streitige Rechtsverhältnis gegenüber jedem Gesamtschuldner nur einheitlich festgestellt werden kann (vgl BSG Urteil vom 23.8.2013 - B 8 SO 7/12 R - SozR 4-5910 § 92 c Nr 2 RdNr 10 mwN).

2. Der Bescheid vom 23.6.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.9.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Zwar durfte die Beklagte die Klägerin als Erbeserbin grundsätzlich auf Zahlung der gegen die verstorbene Versicherte festgesetzten Rückforderung durch Bescheid in Anspruch nehmen. Der Bescheid kann jedoch keinen Bestand haben, weil es an der erforderlichen Ermessensausübung fehlt.

a) Die Beklagte nimmt die Klägerin auf Zahlung einer ursprünglich gegenüber der Versicherten geltend gemachten Erstattungsforderung in Anspruch. Diese hat ihre Grundlage in dem an die Versicherte gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid (Bescheid vom 14.7.2006 in der Fassung des Bescheids vom 27.12.2006; Widerspruchsbescheid vom 16.4.2007), der mit Rechtskraft des Urteils des LSG vom 29.1.2016 bestandskräftig wurde. Die Erstattungsforderung fiel als Verbindlichkeit in den Nachlass der Versicherten. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid erledigte sich durch den Tod der Versicherten auch nicht im Hinblick auf das Zahlungsgebot (vgl § 50 Abs 3 Satz 1 iVm § 50 Abs 1 SGB X) iS von § 39 Abs 2 SGB X auf andere Weise (so missverständlich rvRecht-Rechtsportal der DRV zu § 50 SGB X 3.2.2.1.). Vielmehr gelangte die darin enthaltene Zahlungsverpflichtung mit dem Tod der Versicherten in das Vermögen ihrer Erben, mithin ihres Ehemannes und der gemeinsamen Tochter. Heranzuziehen sind hier mangels sozialrechtlicher Sondervorschriften (vgl für fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen die Sonderrechtsnachfolge in §§ 56 ff SGB I; für zu Unrecht erbrachte Geldleistungen für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten § 118 Abs 4 Satz 1 SGB VI - BSG Urteil vom 3.4.2014 - B 5 R 25/13 R - SozR 4-2600 § 118 Nr 13 RdNr 20 ff) die Regelungen des BGB (vgl auch BSG Urteil vom 15.9.1988 - 9/9a RV 32/86 - SozR 1300 § 45 Nr 40 S 127 = juris RdNr 11: entsprechende Anwendung). Danach gehen in einem Verwaltungsakt konkretisierte und titulierte Verpflichtungen mit dem Tod des Verpflichteten (automatisch) als Nachlassverbindlichkeit (§ 1967 Abs 1 BGB) auf die Rechtsnachfolger über (vgl BSG Urteil vom 15.9.1988 - 9/9a RV 32/86 - SozR 1300 § 45 Nr 40 S 127 = juris RdNr 11; BSG Urteil vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 10; Steinwedel in BeckOGK-Kasseler Kommentar, SGB X, Stand 1.5.2021, § 39 RdNr 26 und Stand 1.3.2021, § 50 RdNr 18 f; Siewert in Diering/Timme, SGB X, 6. Aufl 2023, § 39 RdNr 15). Nach dem Tod des Ehemannes der Versicherten haften die Klägerin und ihre Halbschwester als gemeinsame Erbinnen wiederum nach §§ 1922, 1967, 2058 BGB als Gesamtschuldner für die Nachlassverbindlichkeiten ihres Vaters.

b) Die Beklagte war gegenüber der Klägerin grundsätzlich zum Handeln durch Verwaltungsakt befugt. Für das Handeln einer Behörde durch Verwaltungsakt bedarf es nicht stets einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage. Es reicht vielmehr, wenn sich eine solche Berechtigung aus der Systematik des Gesetzes und der Eigenart des zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnisses ergibt (stRspr; vgl BSG Urteil vom 28.6.2022 - B 12 KR 5/20 R - BSGE ≪vorgesehen≫ und SozR 4-2400 § 28h Nr 8 ≪vorgesehen≫ - juris RdNr 15 ff mwN; BSG Urteil vom 7.4.2022 - B 5 R 24/21 R - SozR 4-1300 § 31 Nr 15 ≪vorgesehen≫ - juris RdNr 23 mwN; BSG Urteil vom 13.12.2005 - B 2 U 16/05 R - SozR 4-2700 § 150 Nr 2 RdNr 12 mwN; vgl auch BFH Urteil vom 12.2.2020 - X R 28/18 - BFHE 268, 218 RdNr 17 mwN). Das war hier der Fall.

Zwischen der Beklagten und der Versicherten bestand zu Lebzeiten eine öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehung, in der die Verwaltung sich der Handlungsform des Verwaltungsaktes bedienen durfte (vgl auch § 117 SGB VI). Soweit die Beklagte die Bewilligung der Altersrente teilweise gemäß § 48 SGB X aufhob und von der Versicherten die Erstattung der überzahlten Rente gemäß § 50 Abs 1 und 3 SGB X forderte, bedurfte es zwingend des Erlasses eines Verwaltungsaktes. Der öffentlich-rechtliche Charakter der Erstattungspflicht ändert sich durch den Erbfall nicht (vgl BSG Urteil vom 17.12.1965 - 8 RV 749/64 - BSGE 24, 190, 192 = SozR Nr 18 zu § 47 VwVG = juris RdNr 14 ff; vgl auch Leipold in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl 2022, Einl ErbR RdNr 169). Es handelt sich weiter um die Abwicklung der zwischen der Beklagten und der Versicherten zu Lebzeiten bestandenen öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehung, die nun in dem für diesen Zweck erforderlichen Umfang mit den Erben fortgesetzt wird (vgl BSG Urteil vom 13.12.2005 - B 2 U 16/05 R - SozR 4-2700 § 150 Nr 2 RdNr 14; auch BSG Urteil vom 15.9.1988 - 9/9a RV 32/86 - SozR 1300 § 45 Nr 40 S 127 - juris RdNr 12; BSG Urteil vom 30.9.1966 - 9 RV 338/65 - juris RdNr 8 ff). Dementsprechend darf eine Behörde etwa auch die erstmalige Festsetzung einer Erstattungsforderung durch Verwaltungsakt festsetzen (vgl BSG Urteil vom 21.10.2020 - B 13 R 19/19 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 25 RdNr 13).

c) Die Beklagte war auch befugt, die konkrete Forderung gegen die Klägerin durch Bescheid festzusetzen.

Existiert, wie hier, bereits ein bestandskräftiger Erstattungsbescheid gegenüber dem Erblasser, ist zur Durchsetzung der Erstattungsforderung nicht stets der Erlass eines weiteren Bescheids gegenüber den Erben erforderlich. Es kommt vielmehr darauf an, in welcher Weise die Beklagte eine Forderung realisieren will. Zur Vollstreckung einer Forderung stehen ihr zwei Wege zur Verfügung: Sie kann gemäß § 66 Abs 4 SGB X in entsprechender Anwendung der vollstreckungsrechtlichen Vorschriften der ZPO vorgehen. Sie kann aber auch gemäß § 66 Abs 1 Satz 1 SGB X nach dem Verwaltungsvollstreckungsrecht des Bundes, dem VwVG, verfahren.

aa) Bei einem Vorgehen nach der ZPO kann der Rentenversicherungsträger allein auf der Grundlage des gegen den Erblasser ergangenen bestandskräftigen Erstattungsbescheids als Vollstreckungstitel die Vollstreckung nach den §§ 704 ff ZPO analog betreiben (vgl BGH Beschluss vom 25.2.2016 - V ZB 25/15 - juris RdNr 5; BGH Beschluss vom 25.10.2007 - I ZB 19/07 - juris RdNr 9). Da die Zwangsvollstreckung aber die namentliche Bezeichnung des Schuldners im Titel oder der diesem beigefügten Vollstreckungsklausel erfordert (vgl § 750 Abs 1 Satz 1 ZPO), bedarf es einer Vollstreckungsklausel mit Benennung aller Erben, gegen die vollstreckt werden soll (vgl § 727 ZPO). Soll die Zwangsvollstreckung in den ungeteilten Nachlass nach § 747 ZPO erfolgen, muss die Klausel die Namen aller Miterben enthalten (vgl auch Paulus in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl 2015, § 727 RdNr 30). Ansonsten ist der Gläubiger auf die Anteilspfändung nach § 859 Abs 2 ZPO oder die Vollstreckung in das persönliche, nicht ererbte Vermögen des Miterben beschränkt (vgl Heßler in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl 2020, § 747 RdNr 22; Paulus in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl 2015, § 747 RdNr 5, s aber die Haftungsbeschränkung des § 2059 Abs 1 Satz 1 BGB). Nach (vollständiger) dinglich vollzogener Aufteilung des Nachlasses (§§ 2042 ff BGB) findet § 747 ZPO keine Anwendung mehr. Eine Zwangsvollstreckung kann sich nur noch gegen den einzelnen Miterben und dessen Vermögen richten (vgl Heßler in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl 2020, § 747 RdNr 18).

Im Vollstreckungsverfahren werden die spezifischen erbrechtlichen Einreden, wie die Einrede der Dürftigkeit bzw Unzulänglichkeit des Nachlasses gemäß § 1990 Abs 1 BGB, geprüft. Eine Verpflichtung, die materielle Berechtigung der Einreden bereits im Erkenntnisverfahren zu überprüfen, besteht grundsätzlich nicht (vgl BVerwG Beschluss vom 14.6.2011 - 8 B 74/10 - juris RdNr 3). Das Sozialgericht bzw Landessozialgericht kann sich, soweit der Erbe eine derartige Einrede erhebt oder jedenfalls den Vorbehalt gemäß § 780 Abs 1 ZPO begehrt, mit dem Ausspruch eines förmlichen Vorbehalts der Beschränkung der Haftung auf den Nachlass begnügen (vgl BVerwG Urteil vom 20.1.1977 - V C 18/76 - BVerwGE 52, 16, 25 f = juris RdNr 19; vgl auch Steinwedel in BeckOGK, SGB X, 1.3.2021, § 50 RdNr 19). Damit wäre der Erbe in einer anschließenden Vollstreckung nach der ZPO nicht gehindert, gemäß § 785 ZPO Vollstreckungsabwehrklage zu erheben (vgl auch BSG Urteil vom 15.9.1988 - 9/9a RV 32/86 - SozR 1300 § 45 Nr 40 S 129 f = juris RdNr 17).

bb) Soll die Vollstreckung aber - wie im Regelfall - nach dem VwVG erfolgen (§ 66 Abs 1 Satz 1 SGB X; für die Vollstreckung nach landesrechtlichen Vorschriften vgl § 66 Abs 3 SGB X), ist ein gesonderter Bescheid, in dem die Leistungspflicht des Erben als Vollstreckungsschuldner konkretisiert wird, erforderlich. Nach dem Tod des Erblassers kann der Erbe nach § 2 Abs 1 Buchst a) VwVG als Selbstschuldner in Anspruch genommen werden (vgl Deusch/Burr in BeckOK VwVfG, 1.4.2022, § 2 VwVG RdNr 2; Sadler/Kremer in Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl 2019, § 2 VwVG RdNr 4; Troidl in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 12. Aufl 2021, § 2 RdNr 2). Voraussetzung für eine Vollstreckung ist nach § 3 Abs 2 Buchst a VwVG, dass zuvor ein Leistungsbescheid ergangen ist, durch den der Erbe, gegen den vollstreckt werden soll, zur Leistung aufgefordert worden ist. Durch den Leistungsbescheid wird der Schuldner mit genauer Angabe der Höhe und des Grundes der geschuldeten Leistung unmissverständlich zur Zahlung aufgefordert (vgl Kremer/Sadler in Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl 2019, § 3 VwVG RdNr 9; vgl auch zu einem Fall von § 2 Abs 1 Buchst b) VwVG BSG Urteil vom 3.9.1986 - 9a RV 10/85 - BSGE 60, 209, 213 f = juris RdNr 16).

Der Erbe kann gegen den an ihn adressierten Bescheid Widerspruch und Klage erheben. In diesem Verfahren kann er zwar die Berechtigung der Forderung, die in dem gegenüber dem Erblasser erlassenen Bescheid bestandskräftig (vgl § 77 SGG) festgesetzt wurde, nicht mehr erfolgreich angreifen. Er kann aber etwa geltend machen, er sei nicht Erbe geworden oder die Forderung bestehe - aufgrund von Zahlungen weiterer Miterben - nicht mehr oder nicht mehr in der angegebenen Höhe.

Erfolgt die Vollstreckung gemäß § 66 Abs 1 Satz 1 SGB X nach dem VwVG, ist eine Berücksichtigung von Einreden gegen die Durchsetzbarkeit der Forderung im Erkenntnisverfahren nicht erforderlich. Wie sich aus § 5 Abs 1 VwVG iVm § 265 AO ergibt, sind die §§ 780, 785 ZPO in der Verwaltungsvollstreckung nicht anwendbar, die beschränkte Erbenhaftung mithin nicht abhängig von einem entsprechenden Vorbehalt im Urteil des Erkenntnisverfahrens. Es genügt zur Geltendmachung der Einreden vielmehr eine formlose Erklärung des Vollstreckungsschuldners gegenüber der Vollstreckungsbehörde erst im Vollstreckungsverfahren (vgl BFH Urteil vom 1.7.2003 - VIII R 45/01 - BFHE 203, 5, 7 = juris RdNr 14).

Den Erfordernissen für eine Vollstreckung nach dem VwVG hat die Beklagte genügt, indem sie mit dem angefochtenen Bescheid die Klägerin aufgefordert hat, 2615,22 Euro im Rahmen der Erbenhaftung gemäß §§ 1922, 1967, 2032 ff BGB auf Grundlage des bestandskräftigen Bescheids gegenüber der Versicherten zu zahlen. Damit hat sie die Haftung der Klägerin konkretisiert und sie anstelle der verstorbenen Versicherten auf Rückzahlung der hälftigen Schuld in Anspruch genommen.

d) Der an die Klägerin adressierte Bescheid vom 23.6.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.9.2016 ist jedoch wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig und aufzuheben. Da die Klägerin hier als Gesamtschuldnerin mit der weiteren Erbin für die Nachlassverbindlichkeit haftet, liegt in ihrer Inanspruchnahme auch eine Auswahlentscheidung. Die Beklagte hat ihr Ermessen, dass und in welcher Höhe sie die Klägerin in Anspruch nimmt, nicht betätigt.

aa) Sind - wie hier - mehrere Erben vorhanden, haften sie nach §§ 1967, 2058 BGB für Nachlassverbindlichkeiten als Gesamtschuldner iS von §§ 421 ff BGB. Der Gläubiger kann zwar gemäß § 421 Satz 1 BGB die Leistung "nach seinem Belieben" von jedem Schuldner ganz oder zum Teil fordern. An die Stelle des "freien Beliebens" tritt bei öffentlich-rechtlichen Forderungen jedoch das fehlerfreie Auswahlermessen des Gläubigers (vgl BSG Urteil vom 23.8.2013 - B 8 SO 7/12 R - SozR 4-5910 § 92c Nr 2 RdNr 22; BSG Urteil vom 30.3.2017 - B 2 U 10/15 R - BSGE 123, 35 = SozR 4-2700 § 130 Nr 1, RdNr 15; vgl auch BVerwG Urteil vom 22.1.1993 - 8 C 57/91 - Buchholz 401.71 AFWoG Nr 10, S 99 f = juris RdNr 20 f; BFH Urteil vom 2.12.2003 - VII R 17/03 - BFHE 204, 380, 387 f = juris RdNr 24; BFH Urteil vom 12.2.2009 - VI R 40/07 - BFHE 224, 306, 307 f = juris RdNr 16). Wo die Behörde die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten - hier die Auswahl zwischen mehreren Schuldnern - hat, ist sie iS von § 39 Abs 1 Satz 1 SGB I ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln. Daraus ergibt sich zugleich, dass sie ihr Ermessen "entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten" hat (vgl BSG Urteil vom 30.3.2017 - B 2 U 10/15 R - BSGE 123, 35 = SozR 4-2700 § 130 Nr 1, RdNr 16). Die von der Beklagten in Bezug genommene Entscheidung des BSG vom 10.7.2012 (SozR 4-2600 § 118 Nr 11) besagt nichts Abweichendes. Dort ging es nicht um eine Auswahlentscheidung, sondern um die Rangfolge der nach § 118 SGB VI in Anspruch zu Nehmenden. Zur Auswahl zwischen den Miterben verhält sich die Entscheidung nicht.

bb) Bei der Inanspruchnahme eines Mitglieds einer Erbengemeinschaft ist das der Behörde eingeräumte Ermessen in der Regel sehr weit und wird nur durch das Willkürverbot und eine offenbare Unbilligkeit begrenzt (vgl BSG Urteil vom 23.8.2013 - B 8 SO 7/12 R - SozR 4-5910 § 92c Nr 2 RdNr 22, einschränkend für die Erbenhaftung nach § 92c BSHG RdNr 23 ff; vgl auch BVerwG Urteil vom 22.1.1993 - 8 C 57/91, aaO, Urteil vom 21.10.1994 - 8 C 11/93 - Buchholz 451.29 Schornsteinfeger Nr 38, S 16 = juris RdNr 23; Urteil vom 10.9.2015 - 4 C 3/14 - Buchholz 406.11 § 154 BauGB Nr 8 RdNr 17). Ein solch weites Ermessen kann unmittelbar aus dem Zweck einer spezialgesetzlichen Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung folgen, die regelmäßig nicht dem Schuldnerschutz dient (vgl solche Konstellationen in BVerwG Urteil vom 2.2.2017 - 2 C 22/16 - Buchholz 232.01 § 48 BeamtStG Nr 1 RdNr 32; BVerwG Urteil vom 21.10.1994 - 8 C 11/93, aaO; BVerwG Urteil vom 22.1.1993 - 8 C 57/91, aaO, juris RdNr 20 ff; aA LSG NRW Urteil vom 9.12.2015 - L 8 R 935/11 - juris RdNr 166 zu § 118 Abs 4 Satz 4 SGB VI iVm § 50 Abs 2 SGB X). Es entspricht indes generell dem Wesen der Gesamtschuld, dass diese nicht im Interesse des Schuldners besteht, sondern dem Gläubiger durch die Mehrheit der jeweils für die Gesamtforderung haftenden Schuldner eine besondere Sicherung bietet und eine rasche und einfache Befriedigung ermöglicht (vgl Looschelders in Staudinger, BGB, 2022, § 421 RdNr 2). Dies gilt grundsätzlich auch für öffentlich-rechtliche Forderungen. So steht bei der Realisierung einer bestandskräftig festgestellten öffentlich-rechtlichen Erstattungsforderung nach § 50 SGB X gegenüber Erben das Interesse der Versichertengemeinschaft an einer zügigen Rückabwicklung zu Unrecht erbrachter Leistungen im Vordergrund.

Die Auswahl eines von mehreren Miterben aus finanziellen oder aus verwaltungspraktischen Gründen ist grundsätzlich zulässig. Die Beklagte ist nicht gehindert, nach ihrer Wahl einen Gesamtschuldner zur Zahlung in voller Höhe heranzuziehen und es ihm zu überlassen, bei dem (oder den) mithaftenden weiteren Erben einen (privatrechtlichen) Ausgleich (vgl § 426 BGB) zu suchen (vgl BVerwG Urteil vom 22.1.1993 - 8 C 57/91, aaO, juris RdNr 20; BVerwG Urteil vom 10.9.2015 - 4 C 3/14, aaO, RdNr 17 f; vgl zum Innenverhältnis der Miterben Marotzke in Staudinger, BGB, 30.11.2022, § 2058 RdNr 80 mwN). Das gilt gleichermaßen für ein Vorgehen, bei dem mehrere Gesamtschuldner - bis zur Erfüllung - jeweils in voller Höhe in Anspruch genommen werden (vgl BVerwG Urteil vom 2.2.2017 - 2 C 22/16, aaO, RdNr 33). Auch die Inanspruchnahme aller Erben entsprechend der zutreffenden Erbquoten begegnet regelmäßig keinen Bedenken.

Einer näheren Begründung wird es in diesen Fällen in der Regel nicht bedürfen, sofern nicht Besonderheiten hinzutreten. Der Umfang der Begründungspflicht richtet sich im Übrigen nach den Umständen des Einzelfalles. Die Begründung von Ermessensentscheidungen muss nach § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Dabei ist die Verwendung des Begriffs "Ermessen" kein unverzichtbares Element der Begründung eines Verwaltungsakts, der die Ermessensbetätigung und die hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte lediglich "erkennen lassen" muss (BSG Urteil vom 11.2.2015 - B 13 R 15/13 R - juris RdNr 22). Aus der Begründung muss aber insbesondere ersichtlich sein, dass die Behörde erkannt hat, dass sie einen Ermessensspielraum hat, also eine Ermessensentscheidung zu treffen ist (zB BSG Urteil vom 18.4.2000 - B 2 U 19/99 R - SozR 3-2700 § 76 Nr 2 S 5 = juris RdNr 18 ff; Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 35 RdNr 11). Wenn der Bescheidadressat ermessensrelevante Umstände in Bezug auf die Auswahlentscheidung substantiiert vorträgt, bedarf es einer Auseinandersetzung hiermit. Aus dem Bescheid muss dann deutlich werden, dass die geltend gemachten Gesichtspunkte von der Behörde zur Kenntnis genommen und in die Erwägungen einbezogen wurden. Einwände eines Schuldners gegen seine Auswahl können dabei nur durchgreifen, wenn sie auf Umständen beruhen, die gerade ihn selbst betreffen. Es reicht nicht aus, wenn der Schuldner einwendet, dass es andere Gesamtschuldner gebe, die ebenfalls oder an seiner Stelle heranzuziehen seien (vgl BVerwG Urteil vom 10.9.2015 - 4 C 3/14, aaO, RdNr 17).

Durch die Annahme eines weiten Ermessensspielraums wird der in Anspruch genommene Gesamtschuldner angesichts der Möglichkeit, Ausgleich von den anderen Gesamtschuldnern zu verlangen (vgl § 426 BGB), auch nicht unangemessen belastet. In einem sozialgerichtlichen Verfahren kann der herangezogene Schuldner zudem nach § 75 Abs 1 Satz 1 SGG eine (einfache) Beiladung der anderen Gesamtschuldner zum Verfahren beantragen, um die Rechtskraftwirkung auf sie auszudehnen und ihnen dadurch Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der Gesamtschuldnerauswahl im Rahmen des privatrechtlichen Ausgleichsverfahrens abzuschneiden (vgl BVerwG Urteil vom 10.9.2015 - 4 C 3/14, aaO, RdNr 17 unter Hinweis auf BVerfG Beschluss vom 24.5.1995 - 1 BvR 923/95 - juris RdNr 4).

cc) Gemessen an den genannten Kriterien kann der angefochtene Bescheid keinen Bestand haben. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte erkannt hat, dass sie hinsichtlich der Inanspruchnahme der Klägerin einen Ermessensspielraum und mithin eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte. Weder der Bescheid vom 23.6.2016 noch die dazu ergangene Widerspruchsentscheidung vom 1.9.2016 enthalten irgendwelche Ausführungen zur Frage der Ausübung des Auswahlermessens. Die Beklagte hat - nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) - lediglich angeführt, sie könne jeden Teilerben nach Belieben zum Ausgleich der Forderung in Anspruch nehmen. Nach der Zahlung des hälftigen Teilbetrages durch die weitere Erbin sei die Klägerin zur Zahlung der verbleibenden Hälfte verpflichtet. Daraus ist nur zu erkennen, dass die Beklagte von einer jeweils hälftigen Zahlungspflicht der Miterbinnen ausging.

Ausführungen zum Auswahlermessen waren nicht etwa deshalb entbehrlich, weil von vornherein nur die von der Beklagten getroffene Entscheidung in Betracht gekommen wäre, mithin eine Ermessensreduzierung auf Null vorlag. Zumindest nach der Einlassung der Klägerin im Laufe des Verwaltungsverfahrens, sie sei nicht Erbin der Versicherten geworden, bestand für die Beklagte Veranlassung, diesem substantiierten Vortrag nachzugehen.

Eine nähere Begründung hatte sich auch nicht deshalb erübrigt, weil die Beklagte die Forderung nach Erbquoten hälftig aufteilte. Mit der Annahme eines hälftigen Anteils orientierte sich die Beklagte allein an dem Erbfall, der mit dem Tod des Vaters der Klägerin eingetreten war. Die Klägerin wurde mit ihrer Halbschwester zu gleichen Teilen Miterbin ihres Vaters (§ 1924 Abs 4 BGB). Dabei ließ die Beklagte aber außer Acht, dass die Klägerin die Versicherte überhaupt nicht beerbt hat. Erben der Versicherten waren vielmehr ihr Vater und ihre Halbschwester mit einer Quote von jeweils 1/2 (vgl §§ 1924 Abs 1, 1931 Abs 1 Satz 1, Abs 3, 1371 Abs 1 BGB). Vor diesem Hintergrund hätte, wie die Klägerin geltend gemacht hat, eine Inanspruchnahme im Umfang von lediglich 1/4 der Erstattungsforderung erwogen werden können. Mit den Besonderheiten der Konstellation hätte die Beklagte sich näher auseinandersetzen müssen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.

Düring

Hannes

Hahn

 

Fundstellen

ZEV 2023, 627

NZS 2023, 919

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