Verfahrensgang

SG Nordhausen (Entscheidung vom 12.01.2023; Aktenzeichen S 13 AS 1227/22)

 

Tenor

Das Sozialgericht Nordhausen wird zum zuständigen Gericht bestimmt.

 

Gründe

I

Der anwaltlich vertretene Kläger hat am 30.7.2021 - entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Widerspruchsbescheids der Beklagten - Klage beim SG Potsdam erhoben. Nach Anhörung der Beteiligten (Schreiben des SG vom 9.8.2021) hat sich das SG Potsdam für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Gotha verwiesen, weil der Kläger bei Eintritt der Rechtshängigkeit seinen Wohnsitz im Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts gehabt habe (Beschluss vom 24.8.2021). Das SG Gotha hat das SG Potsdam zunächst formlos um eine Korrektur seiner Entscheidung gebeten. Nach Ablehnung dieser Vorgehensweise durch das SG Potsdam und Anhörung der Beteiligten hat es sich schließlich für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Nordhausen verwiesen (Beschluss vom 23.11.2022). Dieses hat sich nach Anhörung der Beteiligten ebenfalls für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit dem BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt (Beschluss vom 12.1.2023).

II

Das BSG hat im Streitfall das zuständige Gericht zu bestimmen. Das SG Nordhausen konnte von einem weiteren Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG vom 27.5.2004 - B 7 SF 6/04 S - SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8).

Die Voraussetzungen zur Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG ("negativer Kompetenzkonflikt") durch das BSG liegen vor, weil sich verschiedene Gerichte aus mehreren LSG-Bezirken, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Zwar sind nach § 98 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG rechtskräftige Verweisungsbeschlüsse für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, grundsätzlich bindend. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts hat aber zu erfolgen, wenn dies zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Verweisungsbeschlusses kommt und keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten.

Zuständig ist das SG Nordhausen. Denn es ist an die Verweisung durch das SG Gotha gebunden, ohne den Rechtsstreit erneut weiterverweisen zu können. Dagegen war die Verweisung an das SG Gotha für dieses nicht bindend, weil der Verweisungsbeschluss des SG Potsdam willkürlich und offensichtlich unhaltbar ist (vgl zu diesem Maßstab nur BSG vom 6.8.2021 - B 11 SF 9/21 S - juris RdNr 5 und BSG vom 8.5.2007 - B 12 SF 3/07 S - SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4).

Ergehen in einem Verfahren mehrere Verweisungsbeschlüsse, erlangen sie in chronologischer Reihenfolge Bindungswirkung und schließen weitere Verweisungen aus, wenn erfolgte Verweisungen nicht ausnahmsweise unbeachtlich sind (ebenso ausdrücklich schon BSG vom 27.9.2021 - B 11 SF 12/21 S - juris RdNr 4 mwN). Dies entspricht dem Sinn und Zweck der in § 17a Abs 2 Satz 3 GVG angeordneten Bindungswirkung, die im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG) und einer möglichst zügigen Entscheidung in der Sache Weiter- und Rückverweisungen grundsätzlich ausschließen soll. Der Verweisungsbeschluss hat also nicht nur abdrängende, sondern auch aufdrängende Wirkung (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 98 RdNr 8b).

Das Gesetz schreibt in § 98 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG vor, dass eine Verweisung wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend ist. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht (BSG vom 5.1.2017 - B 4 SF 40/16 S - juris RdNr 4 mwN; BSG vom 25.11.2019 - B 11 SF 10/19 S - juris RdNr 5). Eine fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grundes entbehrt, sodass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt (stRspr; vgl nur BSG vom 21.2.2012 - B 12 SF 7/11 S - juris RdNr 9; BSG vom 13.12.2016 - B 4 SF 4/16 R - juris RdNr 7; BSG vom 23.4.2018 - B 11 SF 4/18 S - juris RdNr 6; BSG vom 23.4.2018 - B 11 SF 4/18 S - juris RdNr 6; BSG vom 25.11.2019 - B 11 SF 10/19 S - juris RdNr 5; BSG vom 6.8.2021 - B 11 SF 9/21 S - juris RdNr 5). Ist eine Entscheidung derart unverständlich, dass sie sachlich schlechthin unhaltbar ist, ist sie willkürlich (BVerfG vom 7.4.1981 - 2 BvR 911/80 - BVerfGE 57, 39 [42]; BVerfG [Kammer] vom 9.3.2020 - 2 BvR 103/20 - juris RdNr 64). Maßgeblich ist insoweit, ob die Entscheidung im Ergebnis objektiv vertretbar ist (vgl BVerfG [Kammer] vom 3.3.2015 - 1 BvR 3271/14 - juris RdNr 13 f; BVerfG [Kammer] vom 10.3.2022 - 1 BvR 484/22 - juris RdNr 10). Auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts kommt es dagegen nicht an (BVerfG vom 7.4.1981 - 2 BvR 911/80 - BVerfGE 57, 39 [42]; BVerfG [Kammer] vom 9.3.2020 - 2 BvR 103/20 - juris RdNr 64 mwN).

Gemäß § 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG richtet sich die örtliche Zuständigkeit des SG zunächst nach dem Wohnsitz des Klägers zur Zeit der Klageerhebung und nur in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem Aufenthaltsort. Von diesem rechtlichen Anknüpfungspunkt ist auch das SG Potsdam ausgegangen. Es hat sich daher zutreffend für örtlich unzuständig gehalten. Den Rechtsstreit des beschäftigungslosen und im Zuständigkeitsbereich des SG Nordhausen wohnhaften Klägers hat es zugleich nur deswegen fälschlicherweise an das SG Gotha verwiesen, weil es sich über die Zuordnung des Ortes zu den Thüringer Gerichtsbezirken geirrt hat.

Nach den dargestellten Maßstäben ist der Verweisungsbeschluss des SG Potsdam vom 24.8.2021 willkürlich. Es hat den Wohnsitz des Klägers zur Zeit der Klageerhebung zutreffend ermittelt (insofern unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von dem des Beschlusses des BSG vom 1.6.2005 - B 13 SF 4/05 S - SozR 4-1500 § 58 Nr 6), dann aber auf dieser Grundlage eine Entscheidung getroffen, die jeder rechtlichen Grundlage entbehrt. Wegen der eindeutigen Zuordnung jedes Landkreises zu einem Gerichtsbezirk in § 1 Abs 2 Thüringer Gesetz zur Ausführung des Sozialgerichtsgesetzes (ThürAGSGG vom 16.8.1993, GVBl S 489, zuletzt geändert durch Artikel 6 des Gesetzes vom 16.10.2019, GVBl S 429) lässt sich keine nachvollziehbare Begründung für die Entscheidung des SG Potsdam finden, die vielmehr offensichtlich auf einem Irrtum beruht. Dass es als evident gesetzwidrig anzusehen ist, wenn ein Gericht, das an das für den Wohnsitz zuständige Gericht verweisen will, an ein anderes Gericht verweist, von dem es irrtümlich annimmt, dieser Wohnsitz liege in dessen Bezirk, hat das Bundesarbeitsgericht bereits entschieden (BAG vom 31.1.1994 - 5 AS 23/93 - AP Nr 44 zu § 36 ZPO). Dessen Rechtsauffassung, dass durch einen solchen Verweisungsbeschluss die Zuständigkeit des irrtümlich für zuständig gehaltenen Gerichts nicht begründet wird, sondern dieses den Rechtsstreit weiterverweisen kann, schließt sich der erkennende Senat an (ebenso Schleswig-Holsteinisches LSG vom 23.6.2009 - L 5 SF 24/09 SA - juris RdNr 5). Entgegen der Ansicht des SG Nordhausen kommt es dafür nicht darauf an, ob der Irrtum auch für die Beteiligten des Rechtsstreits offenkundig war. Denn der Willkürmaßstab ist nach dem oben Gesagten rein objektiv zu bestimmen.

Vor diesem Hintergrund ist die Weiterverweisung an das SG Nordhausen durch das SG Gotha (Beschluss vom 23.11.2022) nicht zu beanstanden. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass willkürliche oder unter Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze zustande gekommene Verweisungsbeschlüsse übergangen werden dürfen und eine Rück- oder Weiterverweisung nicht hindern (s nur BSG vom 8.8.2001 - B 7 SF 8/01 S - SozR 3-1500 § 57 Nr 1).

Einer solchen Verweisung kommt dieselbe Bindungswirkung zu wie einem ersten Verweisungsbeschluss. Das ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung selbst für rechtswidrige Zurückverweisungen anerkannt (BSG vom 21.12.2015 - B 4 SF 1/15 R und B 4 SF 2/15 R - juris RdNr 4 im Anschluss an BGH vom 9.12.2010 - Xa ARZ 283/10 - juris). Erst recht gilt dies für den hier vorliegenden Fall einer berechtigten Weiterverweisung (so schon BSG vom 27.9.2021 - B 11 SF 12/21 S - juris RdNr 9 für eine Zurückverweisung). Die Grenze bilden wiederum die oben angesprochenen Konstellationen eines extremen Rechtsverstoßes, der jedoch dem SG Gotha bei seiner Entscheidung vom 23.11.2022 nicht unterlaufen ist. Sein Beschluss war daher für das SG Nordhausen endgültig bindend, sodass dieses nicht berechtigt war, sich für örtlich unzuständig zu erklären.

Meßling

Burkiczak

B. Schmidt

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15670363

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