Rn 1

§ 35 definiert den gesetzlichen Umfang des Insolvenzbeschlags und damit die Reichweite der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters gemäß § 80.[1] Der Insolvenzbeschlag umfasst grundsätzlich das gesamte Vermögen des Schuldners (§ 35 Abs. 1). Die Vorschrift trennt systematisch zwischen Vermögen des Schuldners zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 35 Abs. 1 Var. 1) und dem sog. Neuerwerb[2] (§ 35 Abs. 1 Var. 2). Neuerwerb ist das Vermögen, das der Schuldner im Laufe des Verfahrens zusätzlich erhält.

§ 35 Abs. 1 steht systematisch in einem engen Zusammenhang mit § 36, der den Insolvenzbeschlag auf die Gegenstände unmittelbar einschränkt, aus denen sich ein Gläubiger im Wege der Einzelzwangsvollstreckung befriedigen kann (§ 36 Abs. 1). Gegenstände, die in der Einzelzwangsvollstreckung nicht gepfändet werden dürfen, sind demnach auch nicht Teil der Insolvenzmasse, wobei § 36 Abs. 2 und 3 zugleich Rückausnahmen zu diesem Grundsatz festlegt.[3] § 37 enthält eine Sonderregelung für die Massezugehörigkeit im Fall der Gütergemeinschaft des Schuldners, sofern der Schuldner das Gesamtgut allein verwaltet.

§§ 35 und 36 legen den gesetzlichen Umfang des Massebeschlages auf das pfändbare Vermögen des Schuldners fest. Die Vorschriften differenzieren demnach zwischen insolvenzbeschlagenem und insolvenzfreiem Vermögen. Nach allgemeiner Meinung kann der Schuldner auf bestimmte Pfändungsschutzvorschriften verzichten und damit die Insolvenzmasse anreichern.[4] Gleichzeitig ist anerkannt, dass der Insolvenzverwalter Massegegenstände aus dem Insolvenzbeschlag freigeben kann, womit eine Verringerung der Insolvenzmasse verbunden sein kann.

 

Rn 2

§ 35 Abs. 2 und 3 regeln die gewillkürte Freigabe des Insolvenzverwalters, soweit der Neuerwerb aus einer selbstständigen Tätigkeit betroffen ist. Die Absätze wurden nachträglich[5] eingefügt, um ein geregeltes Insolvenzverfahren unter Einbeziehung einer selbstständigen Tätigkeit des Schuldners zu ermöglichen. Viele Schuldner setzen ohne Wissen und Kontrolle des Verwalters eine selbstständige Tätigkeit (mit regelmäßig unpfändbaren und daher nicht massezugehörigen Gegenständen)[6] fort bzw. nehmen diese nach Verfahrenseröffnung neu auf und begründen dadurch Verbindlichkeiten, ohne dass der Insolvenzverwalter Einfluss auf deren Begründung nehmen könnte.[7] Durch die Freigabe nach § 35 Abs. 2 kann der Insolvenzverwalter das Insolvenzverfahren vor "wilden" Masseverbindlichkeiten bewahren. Infolgedessen trägt der Schuldner das Risiko seiner Selbstständigkeit selbst, wenn es dem Insolvenzverwalter bei pflichtgemäßer Abwägung im Interesse der Gläubiger[8] zu hoch sein sollte und er daher die Freigabe erklärt.

[1] § 80 Abs. 1 normiert die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des bestellten Insolvenzverwalters auf "das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen".
[2] Anders als noch unter Geltung der KO (siehe MünchKomm-Peters, § 35 Rn. 7 ff.).
[3] Einzelheiten siehe Kommentierung zu § 36.
[5] Eingefügt durch das "Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens", BGBl. I 2005, S. 509 ff.; in Kraft getreten am 01.07.2007 (umfassend dazu Sternal, NJW 2007, 1909 ff.). Zum Übergangsrecht: Art. 103c Abs. 1 EGInsO.
[7] Masseverbindlichkeiten sind ausgeschlossen, wenn der Schuldner ohne Wissen oder gegen den Willen des Insolvenzverwalters eine selbstständige Tätigkeit ausübt (BFH ZInsO 2015, 2092 [2093]; ZInsO 2010, 1556 [1557 f.]).
[8] BT-Drs. 16/3227, S. 17.

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