Leitsatz

1. Die Aufgabe des Willens der Finanzbehörde zur Bekanntgabe eines Steuerbescheids führt nur dann zu dessen Unwirksamkeit, wenn der Wille aufgegeben wird, bevor der Bescheid den Herrschaftsbereich der Verwaltung verlassen hat; die Rechtzeitigkeit der Aufgabe des Bekanntgabewillens muss in den Akten hinreichend klar und eindeutig dokumentiert sein (Anschluss an BFH-Rechtsprechung).

2. Ein Einkommensteuerbescheid ist wegen fehlender hinreichender Bestimmtheit nichtig, wenn er für einen Veranlagungszeitraum ergeht, für den bereits ein – wirksamer – Einkommensteuerbescheid gegenüber demselben Adressaten erlassen wurde, ohne das Verhältnis zu diesem Bescheid klarzustellen.

 

Normenkette

§§ 119, 124, 125 AO

 

Sachverhalt

Das FA erkannte mit ESt-Bescheiden für die Streitjahre 1987 bis 1990 Zahlungen der Klägerin an ihre Mutter als dauernde Last – unter VdN – an, hob diesen Vorbehalt mit Bescheiden unter dem Datum 6.7.1992 auf und erkannte die Zahlungen auch für das Streitjahr 1991 mit Bescheid vom selben Tag – ohne Vorbehalt der Nachprüfung – an. Unter demselben Datum teilte das FA der Klägerin schriftlich mit, dass diese Bescheide der Entscheidung des FA widersprächen und daher unwirksam seien; dem Willen des FA entsprechende Bescheide würden noch bekannt gegeben. Sodann erließ das FA für das Streitjahr 1991 am 4.8.1992 einen neuen ESt-Bescheid, in dem die Zahlungen erneut – allerdings unter Vorbehalt der Nachprüfung – als dauernde Last berücksichtigt wurden. Mit Änderungsbescheiden vom 9.9.1992 änderte das FA die ESt-Bescheide aller Streitjahre insoweit, als es die Zahlungen an die Mutter der Klägerin als privat veranlasste Zuwendung i.S.d. § 12 Nr. 2 EStG außer Ansatz ließ. Das FG hob die Änderungsbescheide auf. Dagegen richtete sich die Revision des FA.

 

Entscheidung

Im Streitfall schließen die Aufhebung des Vorbehalt der Nachprüfung für die ESt-Bescheide 1987 bis 1990 sowie die vorbehaltlose ESt-Festsetzung für 1991 die – angefochtene – spätere Änderung der Veranlagung nach § 164 Abs. 2 AO aus. Die Behauptung des FA, seinen Bekanntgabewillen hinsichtlich der Bescheide vom 6.7.1992 aufgegeben zu haben, bevor die Bescheide den Herrschaftsbereich des FA einschließlich dessen Rechenzentrums verließen, war in den Steuerakten – insbesondere mangels eines Vermerks über den Zeitpunkt der Aufgabe zur Post – nicht hinreichend klar dokumentiert; dieser Mangel ist durch Zeugenvernehmung nicht heilbar (BFH-Entscheidung in BFHE 180, 538, BStBl II 1996, 627). Auch die Änderung der ESt-Festsetzung für 1991 kann nicht auf den Vorbehalt der Nachprüfung im – unangefochtenen – Bescheid vom 4.8.1992 gestützt werden, weil dieser wegen eines besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehlers i.S.d. § 125 Abs. 1 AO nichtig ist. Denn dieser Bescheid ist weder nach seinem Wortlaut noch im Weg der Auslegung als Änderungsbescheid zum Bescheid vom 6.7.1992 anzusehen, weil er diesen als geänderten Bescheid nicht erkennen lässt (BFH-Urteile vom 26.3.1981, VII R 3/79, BFHE 133, 163; vom 6.7. 1994, II R 126/91, BFH/NV 1995, 178). Als erneuter – gegenüber dem Bescheid vom 6.7.1992 selbstständiger – Steuerbescheid lässt er nicht erkennen, dass er nach Bekanntgabe ausschließlich – anstelle des früheren Bescheids – Rechtsgrundlage der Durchsetzung des Steueranspruchs sein soll. Dies ist ein offenkundiger schwerer Fehler, weil nach allgemeiner Auffassung für ein und denselben VZ nicht zwei ESt-Bescheide beziehungslos nebeneinander erlassen werden können. Die irrige Auffassung des FA, den Bescheid vom 6.7.1992 nicht wirksam erlassen zu haben, ändert nichts an der Offenkundigkeit dieses schwerwiegenden Fehlers. Denn aus der maßgeblichen Sicht eines Durchschnittsbeobachters, dessen Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände zu unterstellen ist (BFH-Urteile vom 22.11.1988, VII R 173/85, BFHE 155, 24, BStBl II 1989, 220, und in BFH/NV 1996, 530), konnte die Aufgabe des Bekanntgabewillens nicht als rechtzeitig angesehen werden, weil sie nicht hinreichend dokumentiert worden war (vgl. BFH-Urteil in BFHE 180, 538, BStBl II 1996, 627).

 

Hinweis

Nach § 172 Abs. 1 AO kann das FA einen ESt-Bescheid, soweit er nicht (mehr) vorläufig ist oder unter VdN steht, nur unter eingeschränkten Voraussetzungen ändern; liegen diese nicht vor, ist der Bescheid auch für die Behörde bindend. Hat allerdings das FA seinen Willen zum Erlass des Bescheids oder ggfs. zur Aufhebung der Vorläufigkeit bzw. des Vorbehalts der Nachprüfung aufgegeben, bevor diese Entscheidungen seinen Herrschaftsbereich verlassen haben, werden sie nicht wirksam; Voraussetzung ist aber, dass die rechtzeitige Aufgabe des Bekanntgabewillens in den Steuerakten hinreichend dokumentiert ist (BFH-Urteil vom 27.6.1986, VI R 23/83, BStBl II 1986, 832; vom 24.11.1988, V R 123/83, BStBl II 1989, 344; vom 12.8.1996, VI R 18/94, BStBl II 1996, 627. Ein Beispiel für eine derartige Dokumentation liefert das nachfolgend auf S. 70 besprochene Urteil vom 28.9.2000, III R 43/97.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 23...

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