Leitsatz (amtlich)

Die unklare Fassung des § 32 des Kohlegesetzes hinsichtlich der Frist für die Beantragung der Investitionsprämie ist geeignet, eine Nachsichtgewährung wegen Versäumung dieser Frist zu rechtfertigen.

 

Normenkette

Kohlegesetz § 32; AO § 86 Abs. 1-2

 

Tatbestand

Streitig ist, ob für den verspätet gestellten Antrag auf Investitionsprämie nach § 32 des Gesetzes zur Anpassung und Gesundung des deutschen Steinkohlenbergbaus und der deutschen Steinkohlenbergbaugebiete (Kohlegesetz) vom 15. Mai 1968 (BGBl I 1968, 365, BStBl I 1968, 939) in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1969 vom 18. August 1969 (BGBl I 1969, 1211, BStBl I 1969, 477) Nachsicht zu gewähren ist.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt ein Textilhandelsgeschäft. Er hat nach Abgabe seiner Steuererklärung für das Streitjahr 1969 erstmals im Mai 1971 den Prozeßbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner steuerlichen Interessen beauftragt. Dieser machte ihn auf die Möglichkeit einer Steuervergünstigung nach dem Kohlegesetz aufmerksam. Darauf beantragte der Kläger am 14. Juni 1971 beim Bundesbeauftragten für den Kohlebergbau die hierfür notwendige Bescheinigung nach § 32 Abs. 2 des Kohlegesetzes. Er erhielt sie am 12. Oktober 1971 und beantragte sogleich beim Beklagten und Revisionskläger (FA) erstmals die Gewährung einer Prämie nach dem Kohlegesetz. Der Antrag ging am 16. Oktober 1971, einen Monat nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides 1969, beim FA ein. Das FA behandelte den Antrag als Einspruch gegen diesen Bescheid und verwarf ihn als unzulässig.

Die Klage hatte Erfolg. Das FG führte im wesentlichen aus: Der Kläger habe zwar die Einspruchsfrist versäumt, ihm hätte aber von Amts wegen im Einspruchsverfahren Nachsicht gewährt werden müssen, weil die Versäumung der Einspruchsfrist entschuldbar gewesen sei. Denn der Wortlaut des § 32 des Kohlegesetzes lasse nicht erkennen, ob die Investitionsprämie im Veranlagungs- oder im Abrechnungsverfahren zu beantragen sei. Diese Frage sei erst durch das Urteil des BFH vom 13. Februar 1974 I R 114/72 (BFHE 111, 420, BStBl II 1974, 317) geklärt worden. Daher habe der Kläger ohne Verschulden die Ansicht vertreten können, der Antrag könne noch nach Rechtskraft der Veranlagung im Abrechnungsverfahren gestellt werden, zumal das Gesetz auch bei dieser Auslegung anwendbar bleibe. Er habe erst nach Abgabe der Steuererklärung 1969 von der Möglichkeit einer Investitionsprämie erfahren. Ihm sei nicht klar gewesen, ob er als Händler die Voraussetzungen des Kohlegesetzes erfülle. Deshalb habe er den Antrag erst nach Erlangung der Bescheinigung stellen wollen. Dies habe er auch unverzüglich getan. Er könne die vom FA unterlassene Nachsichtgewährung nachholen, da die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen bereits im Einspruchsverfahren vorgelegen hätten (BFH-Urteil vom 6. November 1969 IV R 127/68, BFHE 97, 508, BStBl II 1970, 214). - Das FG erkannte dem Kläger eine Prämie nach dem Kohlegesetz in Höhe von 3 028 DM zu und setzte die Einkommensteuer entsprechend herab.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 86 AO. Der Kläger habe nicht ohne Verschulden die Ansicht vertreten können, daß der Antrag auf Gewährung der Investitionsprämie noch im Abrechnungsverfahren gestellt werden könne. Die enge Verbindung des § 32 des Kohlegesetzes mit dem Einkommensteuerrecht, die insbesondere in § 32 Abs. 4 des Kohlegesetzes zum Ausdruck komme, lasse nur den Schluß zu, daß die Gewährung der Investitionsprämie in die Steuerfestsetzung einzubeziehen sei. Der Kläger habe zwar erst durch den neuen Steuerberater von der Möglichkeit einer Investitionsprämie erfahren, hätte sie aber damals noch vor Rechtskraft des Steuerbescheides beantragen können.

Das FA beantragt die Aufhebung des FG-Urteils und die Abweisung der Klage.

Der Kläger beantragt sinngemäß die Zurückweisung der Revision.

Er trägt u. a. vor: Vor Ergehen des BFH-Urteils I R 114/72 sei in der Literatur und in der Rechtsprechung die Meinung vertreten worden, daß die Gewährung der Prämie Teil des Abrechnungsverfahrens sei (Nebe, Deutsches Steuerrecht 1971 S. 557 ff.; Urteil des FG Münster vom 2. Juli 1972 II 1521/71 K). Sie entspreche dem Gesetzeswortlaut "Abzug von der Steuer". Er habe gesetzliche Ungereimtheiten nicht zu vertreten. Die Finanzverwaltung hätte wie in anderen Fällen Klarheit durch Richtlinien oder Erlasse schaffen müssen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Das FG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger unter Nachsichtgewährung wegen Versäumung der Einspruchsfrist eine Investitionsprämie nach dem Kohlegesetz zu gewähren ist.

Die Gewährung der Investitionsprämie nach § 32 des Kohlegesetzes ist Teil des Einkommensteuer- oder Körperschaftsteuerfestsetzungsverfahrens (vgl. Urteil des BFH I R 114/72). Es genügt daher, wenn der Steuerpflichtige den Antrag auf Investitionsprämie noch im Einspruchsverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1969 gestellt hat, oder wie im Streitfall, ihm wegen Versäumung der Einspruchsfrist Nachsicht zu gewähren ist.

Nachsicht ist nach § 86 Abs. 1 AO auf Antrag zu gewähren, wenn ein Steuerpflichtiger ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten. Der Antrag ist nach § 86 Abs. 2 AO innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; innerhalb der gleichen Frist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Nachsicht auch ohne Antrag gewährt werden. Das FG hat ohne Rechtsverstoß ausgeführt, daß diese Voraussetzungen für die Nachsichtgewährung im Streitfall vorgelegen haben. Der Kläger war ohne Verschulden verhindert, die Einspruchsfrist einzuhalten. Denn die Fristversäumnis hat auf einem entschuldbaren Rechtsirrtum über den Fristablauf beruht (vgl. die Urteile des BFH vom 29. Juli 1954 V 50/54 U, BFHE 59, 212, BStBl III 1954, 290, und vom 17. November 1970 II R 121/70, BFHE 100, 490, BStBl II 1971, 143). Der Rechtsirrtum des Klägers beruhte darauf, daß den Vorschriften des Kohlegesetzes, insbesondere des § 32, nicht ausdrücklich zu entnehmen ist, innerhalb welcher Frist der Antrag auf Investitionsprämie zu stellen ist und ob überhaupt dafür eine Frist besteht. Die darüber bestehenden Zweifel sind erst durch das Urteil des BFH I R 114/72 dahin gehend geklärt worden, daß nicht das Abrechnungsverfahren, sondern bereits das Einkommensteuer- oder Körperschaftsteuerfestsetzungsverfahren maßgeblich ist. In dem dort entschiedenen Rechtsstreit hatte noch die Vorinstanz in Übereinstimmung mit einem Teil der Literatur eine andere Auffassung vertreten. Eine rechtzeitige Klarstellung ist weder durch den Gesetzgeber noch durch die Finanzverwaltung erfolgt; insbesondere hat die Finanzverwaltung auch nicht in einem zum Kohlegesetz ergangenen Erlaß zu dieser Frage Stellung genommen. Zu einer solchen Klarstellung hätte um so mehr Anlaß bestanden, als der Gesetzgeber in anderen Investitionsförderungsfällen besondere Verfahren mit anderen Fristen gewählt hat (vgl. Urteil des BFH I R 114/72). Ist aber die Rechtslage in einem Gesetz unklar geregelt, so kann es einem Steuerpflichtigen nicht zugemutet werden, selbst durch die Auslegung der Gesetzesvorschrift die richtige Frist zu ermitteln. Ihn trifft daher auch kein Verschulden.

Der Rechtsirrtum des Klägers war auch für die Fristversäumnis ursächlich. Denn er hatte nach Durchsicht des Gesetzes keinen Anlaß anzunehmen, daß die Investitionsprämie nach dem Kohlegesetz nur im Steuerfestsetzungsverfahren gewährt werden könne, zumal er den Hinweis auf die Möglichkeit zur Erlangung einer Investitionsprämie von seinen Prozeßbevollmächtigten erhalten hat, der seinerseits offensichtlich aufgrund der damaligen Rechtslage den Ablauf der Frist nicht erkannt hat und auch nicht erkennen mußte. Der Steuerpflichtige, der erstmals den Antrag auf eine Investitionsprämie nach dem Kohlegesetz gestellt hat, hat vielmehr seinerseits das getan, was ihm aufgrund der Vorschrift des Gesetzes zugemutet werden konnte, denn er hat sich um die notwendige Bescheinigung des Bundesbeauftragten für das Kohlegesetz bemüht und unverzüglich nach Erhalt der Bescheinigung beim FA den Antrag auf Investitionsprämie gestellt.

Das FG war auch befugt, die Nachsichtgewährung durch das FA nachzuprüfen, da die Entscheidung über die Nachsichtgewährung eine Rechtsentscheidung ist (vgl. Urteil des Senats vom 17. Oktober 1972 VIII R 36-37/69, BFHE 108, 141, BStBl II 1973, 271).

 

Fundstellen

BStBl II 1978, 45

BFHE 1978, 395

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