Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein entschuldbarer Rechtsirrtum über den Ablauf der Rechtsmittelfrist kann zur Nachsicht führen.

 

Normenkette

AO §§ 86-87; VwZG § 8

 

Tatbestand

Nach den Feststellungen des Finanzgerichts hat das Finanzamt die Einspruchsentscheidung am 30. Mai 1953 durch einfachen Brief zur Post gegeben, und zwar an den Beschwerdeführer (Bf.), obwohl dieser im Einspruchsverfahren und vorher durch einen Steuerberater vertreten war. Die Berufungsschrift ist am 4. Juli 1953 beim Finanzamt eingegangen.

Das Finanzgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen; die Rechtsmittelfrist betrage nach §§ 245, 246 der Reichsabgabenordnung (AO) einen Monat und beginne mit Ablauf des Tages, an dem die Entscheidung dem Berechtigten zugestellt worden sei oder als bekanntgemacht gelte. Nach § 17 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952 (Bundesgesetzblatt I S 379) gelte, wenn eine formelle Zustellung nicht erfolge, die Bekanntgabe mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bewirkt. Dies sei der 2. Juni 1953. Die Rechtsmittelbelehrung der Einspruchsentscheidung sei zwar insofern unrichtig, als darin der dritte Werktag nach Aufgabe zur Post als Tag der Bekanntgabe bezeichnet worden sei. Diese habe jedoch nicht zur Folge, daß die Rechtsmittelfrist überhaupt nicht in Lauf gesetzt worden sei, sondern dieser Fehler bewirke nur, daß sie nicht früher beginnen könne, als es der Belehrung entspreche. Da der 31. Mai 1953 ein Sonntag gewesen sei, habe die Rechtsmittelfrist mit dem 4. Juni 1953 begonnen und am 3. Juli geendet (ß 82 AO in Verbindung mit § 188 BGB). Der Einwand des Bf., daß die Entscheidung wirksam nur an seinen Bevollmächtigten habe bekanntgegeben werden können, könne infolge der geänderten Rechtslage nicht durchgreifen, da § 19 VwZG den § 88 AO aufgehoben habe. Nachsicht sei nicht beantragt worden, könne auch nicht vom Amts wegen bewilligt werden, da der Bf. durch einen Steuerberater vertreten sei, dem die geänderte Rechtslage bekannt gewesen sein müsse.

 

Entscheidungsgründe

Die gegen die Verwerfung der Berufung gerichtete Rechtsbeschwerde (Rb.) führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Das Finanzgericht hat die für die Einlegung der Berufung maßgebliche Frist nach dem im Streitfall anzuwendenden VwZG zutreffend berechnet. Danach wäre die Berufung um einen Tag verspätet beim Finanzamt eingegangen. Ob die Auffassung der Rb., daß sich durch die Aufhebung des § 88 AO an dem bisherigen Rechtszustand nichts geändert habe, zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Denn dem Bf. hätte in jedem Falle Nachsicht gewährt werden müssen.

Die Gründe, die das Finanzgericht zur Ablehnung der Nachsicht veranlaßt haben, verkennen die Sach- und Rechtslage. Das Finanzgericht kann sich nicht in einem Falle, in dem der Steuerberater durch das Finanzamt ausgeschaltet worden war, für die Frage des Verschuldens im Sinne des § 86 AO auf die Vertretung des Steuerpflichtigen durch einen Steuerberater berufen; dabei ist noch nicht einmal festgestellt worden, ob der Steuerberater durch seinen Mandanten rechtzeitig von dem Eingang der Einspruchsentscheidung in Kenntnis gesetzt worden war, was die Rb. bestreitet. Abgesehen davon ist die Rechtslage nicht so zweifelsfrei, daß auch ein Steuerberater das Inlaufsetzen der Rechtsmittelfrist bei seiner übergehung unbedingt annehmen mußte, zumal da die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Verwaltungszustellungsgesetz vom 3. Oktober 1952 (Bundesanzeiger Nr. 195 S. 1, Ministerialblatt des Bundesministeriums der Finanzen 1952 S. 547) in Ziff. 10 davon ausgehen, daß die Zustellung an den Bevollmächtigten vorgenommen werden soll. Daß schließlich mit dem Inkrafttreten des VwZG in einer übergangszeit entschuldbare Irrtümer vorgekommen sind und vorkommen, geht auch aus der vom Finanzamt erteilten Rechtsmittelbelehrung hervor, die gleichfalls nicht den Vorschriften des VwZG entspricht (ß 17 Abs. 2 VwZG). In derartigen Fällen hat die Rechtsprechung aber stets Nachsicht gewährt (vgl. Urteile des Reichsfinanzhofs VI a A 2/21 vom 12. Juli 1922, Slg. Bd. 10 S. 151, und VI A 358/30 vom 20. März 1930, Slg. Bd. 26 S. 266). Da hiernach, folgt man der Rechtsauffassung der Rb., entweder die Berufung rechtzeitig eingelegt sein würde oder Nachsicht zu gewähren war, mußte die Vorentscheidung aufgehoben und die nicht spruchreife Sache an das Finanzgericht zurückverwiesen werden, das nunmehr darüber zu entscheiden haben wird, ob die Berufung sachlich begründet ist. Da die Vorentscheidung ausschließlich die verfahrensrechtliche Frage der Zulässigkeit der Berufung betrifft, liegt in der Einlegung der Rb. bereits die Rüge unrichtiger Anwendung der §§ 86, 87 AO, so daß es nicht mehr darauf ankommt, daß die Begründung der Rb. verspätet eingereicht worden ist.

Dem Finanzgericht waren auch die Kostenentscheidung und die Feststellung des Streitwertes gemäß §§ 318 Abs. 2, 320 Abs. 3 AO zu übertragen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 407987

BStBl III 1954, 290

BFHE 1955, 212

BFHE 59, 212

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