Leitsatz (amtlich)

Die durch einen fachkundigen Berater erklärte Rücknahme eines Rechtsmittels ist wirksam, auch wenn sie nach einer objektiv unrichtigen Belehrung eines mit der Bearbeitung des Rechtsmittels beauftragten wissenschaftlichen Mitarbeiters des FG und auf dessen Anregung erfolgte.

 

Normenkette

AO a.F. § 253

 

Tatbestand

Die Revisionsklägerin (Gesellschaft des bürgerlichen Rechts - GdbR -) betreibt einen Fleischhandel. Das FA erließ für 1956 einen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und für 1957 einen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO berichtigten Gewinnfeststellungsbescheid. Der Bescheid für das Streitjahr 1957 enthielt neben der Erklärung der Nichtordnungsmäßigkeit der Buchführung (auch hier war im ursprünglichen Bescheid der Gewinn als auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt angesehen worden) eine Herabsetzung des Gewinns. Die Herabsetzung erfolgte aus der Nichtanerkennung der Sonder-AfA nach § 7a EStG im Vorjahr und der dementsprechenden Erhöhung der Normal-AfA im Streitjahr.

Die Gesellschaft legte gegen die Berichtigungsbescheide 1956 und 1957 Sprungberufungen ein, mit denen sie sich gegen die Versagung der Vergünstigung für Heimatvertriebene nach §§ 7a und 10a EStG wandte. Auf die das Jahr 1956 betreffende Sprungberufung hob das FG den Berichtigungsbescheid ersatzlos auf. Eine Entscheidung über die das Jahr 1957 betreffende Sprungberufung unterblieb, weil der Vertreter der Gesellschaft schon vor dem das Jahr 1956 betreffende Urteil mit Schreiben vom 6. Dezember 1961 an das FG, zu Händen Regierungsrat K. erklärt hatte: "Unter Bezugnahme auf die fernmündliche Unterredung mit Ihnen ziehe ich hiermit meine Sprungberufung gegen den Feststellungsbescheid für 1957 zurück."

Mit Schriftsätzen vom 25. Oktober und 19. November 1962 beantragte der Vertreter der Gesellschaft, die Rechtsmittelzurücknahme als nicht geschehen zu betrachten und für unwirksam zu erklären. Er habe von dem seinerzeitigen Bearbeiter des Rechtsmittels, K., eine unzutreffende Auskunft bekommen. Dieser habe bei dem im Schreiben über die Rechtsmittelzurücknahme erwähnten fernmündlichen Gespräch zu verstehen gegeben, daß wegen der Herabsetzung des Gewinns im Berichtigungsbescheid 1957 keine Beschwer gegeben sei und daher die Sprungberufung als unzulässig verworfen werden müsse. Er habe auf Grund dieses Hinweises der Ansicht sein können, daß über die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung "generell" im Verfahren über die einheitliche Gewinnfeststellung 1956 für das Jahr 1957 mitentschieden werde. Ohne diesen Hinweis hätte er das Rechtsmittel nie zurückgenommen.

K. bestätigte in einer schriftlichen Äußerung, daß er sich mit dem Vertreter der Gesellschaft fernmündlich in Verbindung gesetzt und diesem zu bedenken gegeben habe, daß im Hinblick auf die Herabsetzung des Gewinns im Berichtigungsbescheid 1957 die Gesellschaft durch diesen Bescheid nicht beschwert erscheine und daher die Sprungberufung gegen diesen Bescheid möglicherweise als unzulässig verworfen werden müsse. Er habe deshalb wohl auch auf die Möglichkeit der Rechtsmittelrücknahme hingewiesen.

Das FG hat die Sprungberufung als unzulässig verworfen. Bei seiner Entscheidung ging es davon aus, daß dem Vertreter der Gesellschaft von dem Bearbeiter des Rechtsmittels beim FG eine unrichtige Rechtsauskunft erteilt worden sei. Die Gesellschaft sei aber durch einen Steuerberater fachkundig vertreten gewesen, bei dem die Willensentscheidung nicht in einem solchen Maße beeinträchtigt sei, daß er keinen anderen Ausweg als den der Rechtsmittelrücknahme gesehen habe.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die nach dem Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandelnde Rechtsbeschwerde der Gesellschaft ist nicht begründet.

I. Im Streit befindlich ist die Zulässigkeit der Sprungberufung gegen den berichtigten einheitlichen Gewinnfeststellungsbescheid für 1957. Dieser ist ausweislich der Akten am 17. August 1960, demgemäß vor dem Inkrafttreten der FGO (1. Januar 1966) ergangen. Nach § 184 Abs. 2 Nr. 2 FGO ist die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs gegen die vor dem Inkrafttreten der FGO ergangenen Entscheidung (Verwaltungsakte) nach den bisher geltenden Vorschriften, also nach denen der AO a. F. zu beurteilen.

II. Ein bereits eingelegtes Rechtsmittel kann bis zu den in § 253 Satz 1 AO a. F. bezeichneten Zeitpunkten (Unterzeichnung der Rechtsmittelentscheidung, Schluß der mündlichen Verhandlung) zurückgenommen werden. Die Zurücknahme hat den Verlust des Rechtsmittels zur Folge (§ 253 Satz 3 AO a. F.).

Die Zurücknahme des eingelegten Rechtsmittels ist eine prozessuale Handlung; die Anfechtung dieser Erklärung ist demnach Anfechtung einer prozessualen Handlung. Die AO a. F. enthält keine Vorschriften darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen prozessuale Handlungen angefochten oder widerrufen werden können.

Auf steuerlichem Gebiet ist die im Zivilprozeßrecht geltende strenge Auffassung nicht uneingeschränkt zu übernehmen. Die Auswirkungen einer Rechtsmittelrücknahme im finanzgerichtlichen Verfahren reichen weiter als im Zivilprozeß. Denn in diesem ist anders als im Steuerprozeß eine neue Klage zum gleichen Streitgegenstand nach einer Klagerücknahme in der Regel ohne weiteres zulässig (vgl. § 271 Abs. 4 ZPO). Unter diesen Umständen gebieten es die rechtsstaatlichen Erfordernisse, in krassen Fällen einer unzulässigen Einwirkung auf den Rechtsmittelführer, insbesondere wenn dieser rechtsunkundig ist, einer so herbeigeführten Rechtsmittelrücknahme die Wirksamkeit zu versagen. Das gilt jedoch nicht, wenn der Steuerpflichtige auf Grund einer Beratung durch einen sachkundigen Bevollmächtigten nach ausreichender Zeit zur Prüfung von sich aus die Rücknahme eines Rechtsmittels ausgesprochen hat (Urteil des BFH IV 73/59 U vom 9. November 1961, BFH 74, 240, BStBl III 1962, 91). Auch wenn die Rücknahmeerklärung unter dem Einfluß einer arglistigen Täuschung oder Drohung abgegeben wurde, ist sie als unwirksam zu behandeln (vgl. BFH-Entscheidung IV 192/52 U vom 3. Juli 1952, BFH 56, 627, BStBl III 1952, 241). Für den Fall einer Auskunft ist der BFH der Meinung, daß der Steuerpflichtige sich auf deren Richtigkeit, mag sie mündlich oder schriftlich erteilt worden sein oder mag sie sich auf ein bei einer übergeordneten Instanz anhängiges Rechtsmittel beziehen, müsse verlassen können, wenn sie ohne Vorbehalt erteilt worden sei. Dem Grundsatz des Vertrauensschutzes handele die Steuerbehörde jedoch zuwider, wenn sie in einem schwebenden Rechtsmittelverfahren dem Rechtsmittelführer eine unrichtige Auskunft über die Aussichten des Rechtsmittels erteile und sich nachher auf die rechtskräftig gewordene Entscheidung berufe, wenn der Rechtsmittelführer das Rechtsmittel auf die unrichtige Auskunft hin zurückgenommen habe (vgl. BFH-Urteile III 35/58 U vom 19. Dezember 1958, BFH 68, 296, BStBl III 1959, 116; IV 159/58 U vom 13. Mai 1959, BFH 69, 88, BStBl III 1959, 294; IV 176/59 S vom 17. August 1961, BFH 74, 284, BStBl III 1962, 107).

Der Streitfall unterscheidet sich von den bisher vom BFH entschiedenen Fällen dadurch, daß die Rechtsbelehrung nicht von einer Finanzverwaltungsbehörde, sondern von dem Bediensteten eines FG erteilt worden ist. Ungeachtet dessen hält es der Senat für vertretbar, die gleichen Rechtsgrundsätze wie in den Fällen der Rechtsbelehrung durch eine Finanzverwaltungsbehörde anzuwenden.

III. Zu dem Zeitpunkt, zu dem der seinerzeitige Bearbeiter des Rechtsmittels beim FG die Gesellschaft davon in Kenntnis setzte, daß die Sprungberufung mangels Beschwer keine Aussicht auf Erfolg habe, und daß er ihr die Zurücknahme der Berufung anheimstelle, war die Rechtsbelehrung nach dem vorliegenden Akteninhalt unrichtig. Gleichwohl begegnet die Vorentscheidung, die Rechtsmittelrücknahme sei wirksam, keinen rechtlichen Bedenken. Zutreffend hält in diesem Zusammenhang die Vorinstanz die Entschließungsfreiheit eines Rechtsmittelführers durch eine "amtliche" Äußerung dann nicht für entscheidend beeinträchtigt, wenn der Rechtsmittelführer selbst rechtskundig oder durch einen fachkundigen Steuerberater vertreten ist. Bei dieser Sachlage kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Steuerberater in der Entscheidung, ob er das Rechtsmittel zurücknehmen solle oder nicht, nicht mehr frei gewesen wäre. Die Gesellschaft hat jedenfalls hier nicht als Folge des Mißbrauchs behördlicher Autorität ihr Rechtsmittel zurückgenommen. Es war vielmehr Sache des Beraters, in eigener sorgfältiger Überlegung das Prozeßrisiko abzuwägen. Hierbei wird er dem gleichen Irrtum unterlegen sein wie K., d. h. die Auswirkung der Rechtskraft des Berichtigungsbescheids auf die Einzelveranlagung übersehen haben. Dieser Fehler, der dann zur Rechtsmittelrücknahme führte, ist aber von der Gesellschaft zu vertreten. Es muß daher bei der Unzulässigkeit der Sprungberufung sein Bewenden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68346

BStBl II 1969, 52

BFHE 1968, 536

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