Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücknahme der Festsetzung einer Anlieferungs-Referenzmenge-Milch

 

Leitsatz (NV)

1. Das HZA ist unabhängig davon, ob die Festsetzung der Anlieferungs-Referenzmenge-Milch (ARM), ihm oder dem Käufer zuzurechnen ist, für deren Rücknahme nach § 10 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 VwVfG zuständig.

2. Zur Bestimmung des Zeitpunkts für den Beginn der Jahresfrist zur Rücknahme einer rechtswidrig festgesetzten ARM.

3. § 10 Abs. 1 MOG stellt die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Bescheids nicht in das Ermessen der Behörde. Ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 VwVfG vorliegen, hängt ebenfalls nicht von einer Ermessensentscheidung der Behörde ab (Wiederholung von BFH, Urteil vom 13. März 1990 VII R 47/88, BFHE 164, 141).

4. Zum Vertrauensschutz bei rückwirkender Herabsetzung einer ARM.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; MOG §§ 8, 10 Abs. 1, § 34 Abs. 1 S. 5; VwVfG § 48 Abs. 2, 4; MGV §§ 2, 4 Abs. 2, § 7 Abs. 1, § 10 Abs. 1, 3

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Milcherzeuger. Er lieferte seine Milch an die Milchversorgung M, deren Genosse er durch den Erwerb entsprechender Geschäftsanteile geworden ist. Im November 1983 pachtete er den gesamten Betrieb des Landwirts F, der dort im Jahre 1981, x kg Milch erzeugt hatte, und übernahm auch dessen Geschäftsanteile an der M. Gleichzeitig wurde mit der zuständigen Landwirtschaftskammer (LWK) ein Betriebsentwicklungsplan erstellt, der von einer jährlichen Milcherzeugnis von y kg ausging und in dem auch der Neubau eines Stalles geplant war. Von 1984 an erweiterte der Kläger seinen Betrieb um eine Schweinezucht und nahm Investitionen, insbesondere einen Stallneubau, vor, die zu einer Kreditaufnahme von ca. ... DM führten.

Mit einem ersten Schreiben ... teilte die M dem Kläger eine vorläufige Berechnung seiner Anlieferungs-Referenzmenge-Milch (ARM) mit. In den beigefügten Erläuterungen führte die M u.a. aus, sofern seit 1981 eine Betriebsübergabe mit Auswirkungen auf die Höhe der Garantiemenge durch Kauf, Pacht oder Erbgang stattgefunden habe, seien ihr ebenfalls entsprechende Unterlagen vorzulegen. Eine Übertragung des Milchkontingents mit dem Betrieb bzw. dem Land sei also möglich.

Mit einem weiteren Schreiben ... teilte die M dem Kläger abschließend mit, daß seine ARM a kg betrage. Bei ihrer in dem Schreiben enthaltenen Berechnung ging M von Milchanlieferungen für 1981 in Höhe von b kg und für 1983 in Höhe von c kg aus. In den Erläuterungen zur abschließenden Berechnung teilte M weiter mit, daß ihre vorläufigen Mitteilungen im ersten Schreiben damit ungültig seien und allein der Vorabinformation der Mitglieder gedient hätten. Weiterhin erfolge die Berechnung unter Vorbehalt. Sollten die Erzeuger aufgrund ihrer Daten zu anderen Ausgangswerten kommen bzw. Unstimmigkeiten feststellen, bitte sie um schriftliche Benachrichtigung. Des weiteren wies M auf Einspruchsfristen und Rechtsmittel hin.

M teilte dem beklagten und revisionsbeklagten Hauptzollamt (HZA) die Summe aller von ihr berechneten ARM mit. Bei M fanden seit Ende 1985 im Auftrag des HZA Außenprüfungen der Betriebsprüfungsstelle Zoll der Oberfinanzdirektion (BpZ) statt. Erst aufgrund einer Ende 1988 begonnenen Betriebsprüfung bei M trat der vage Verdacht auf, daß die Berechnung der ARM der die M beliefernden Erzeuger manipuliert sein könnte. Anfang 1989 erhärtete sich der Verdacht, so daß gegen Verantwortliche der M ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Im Rahmen ihrer Ermittlungen erhielten Beamte des Zollfahndungsamtes von der LWK im April 1989 einen Vermerk über eine Besprechung vom ... 1984, in der Vertreter der M auf die fehlerhaften Berechnungen der ARM hingewiesen worden waren. Im Januar 1990 übergab der Prüfer des genossenschaftlichen Prüfverbandes, dem die M angehörte, eine Liste mit den Milchanlieferungen aller Mitglieder der M für das Jahr 1983. Die daraufhin durchgeführte Überprüfung der von M berechneten ARM ergab, daß ARM durch Verantwortliche der M gezielt falsch berechnet worden waren. Hinsichtlich des Klägers wurde festgestellt, daß bei der von M für ihn am ... 1984 berechneten ARM die Erzeugung des F in den Jahren 1981 und 1983 seiner Erzeugung in diesen Jahren hinzugerechnet worden war.

Durch Schreiben vom ... 1989 informierte die M den Kläger darüber, daß ihm nur eine erheblich geringere ARM zustehe. Der Kläger nahm hierzu am ... 1990 gegenüber dem HZA Stellung und bat, ihm die bisherige ARM zu belassen. Mit der Übernahme des Beriebes von F habe er seinen eigenen Betrieb komplett umgestellt und dabei ... DM investiert. Die Genossenschaftsanteile des F an der M habe er auf Anraten der M übernommen. Sein Betrieb werde gefährdet, wenn seine ARM gekürzt werde.

Durch Bescheid vom Oktober 1990 nahm das HZA die von M berechnete ARM zurück und setzte sie unter Zugrundelegung des Ermittlungsergebnisses mit Wirkung vom April 1984 auf ... kg herab. Dabei berücksichtigte es die Zupachtung von F nur, indem es dessen Liefermenge der Liefermenge des Klägers für 1981 hinzurechnete (§ 4 Abs. 2 Satz 2 der Milchgarantiemengen-Verordnung - MGV -).

Die Klage blieb erfolglos.

Mit seiner Revision macht der Kläger im wesentlichen geltend, das FG habe ihm zu Unrecht vorgeworfen, daß er die falsche Berechnung seiner ARM aufrund leichter Fahrlässigkeit nicht bemerkt habe. Er habe sich auf die Erklärungen der M verlassen dürfen, daß ihm die Milchmenge, die in den Jahren 1981 bis 1983 von dem angepachteten Betrieb des F an die Molkerei geliefert worden sei, auf sein Milchkontingent angerechnet werde. Die Vertreter der M seien Fachleute, und er habe keinen Anlaß gehabt, an deren Kompetenz zu zweifeln. Deshalb habe er auch auf die Bestandskraft des Festsetzungsbescheides hinsichtlich der ARM vom ... vertrauen dürfen. Den Erlös aus der ihm zuviel zugeteilten Referenzmenge habe er zur Bestreitung seines alltäglichen Lebensunterhalts und zur Bestreitung der laufenden Betriebskosten seines landwirtschaftlichen Betriebs verbraucht. Insoweit komme es nicht entscheidend darauf an, inwieweit der Beweis erbracht worden sei daß die von ihm in den Folgejahren nach 1984 im Betrieb durchgeführten Investitionen gerade mit Rücksicht auf die höhere ARM vorgenommen worden seien. Gegenüber seinem schutzwürdigen Interesse an der Aufrechterhaltung der ursprünglich zugeteilten ARM müsse das Allgemeininteresse an der Neufestsetzung der ARM zurücktreten. Bei der Abwägung der gegenseitigen Interessen komme es auf die Verhältnisse des Einzelfalls an; deshalb sei auch zu berücksichtigen, daß die ihm zuviel zugeteilte ARM im Verhältnis zu der Gesamterzeugung von Milch in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) überhaupt nicht ins Gewicht falle. Im übrigen sei nicht das HZA, sondern die M für die Rücknahme der ARM zuständig gewesen. Bestritten werde, daß das HZA erst im Januar 1990 von der Falschberechnung Kenntnis erlangt habe. Bereits Ende 1988 seien Tatsachen bekannt geworden, die auf eine bewußte Manipulation der ARM hingedeutet hätten. Aus diesem Grunde sei der Bescheid vom Oktober 1990 verspätet ergangen, weil die in § 48 Abs. 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vorgesehene Frist nicht eingehalten worden sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Das FG ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, daß dem HZA bei der Entscheidung über die Rücknahme der rechtswidrigen Berechnung der ARM nach § 10 Abs. 1 des Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisation (MOG) i.V.m. § 48 Abs. 2 VwVfG ein Ermessen zusteht. Es hat daher die Entscheidung des HZA nicht voll überprüft und nicht alle für die Gewährung von Vertrauensschutz in Betracht kommenden Tatsachen festgestellt.

1. Der Senat teilt die Auffassung des FG, daß im Streitfall das Einspruchsverfahren das zutreffende Vorverfahren gegen den Rücknahmebescheid des HZA war. Dies ergibt sich, wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, aus § 34 Abs. 1 Satz 5 MOG. Allerdings ist die Annahme der Vorinstanz unzutreffend, daß sich insoweit aus Abs. 6 der Milch-Garantiemengen-Dienstanweisung (Vorschriftensammlung Bundesfinanzverwaltung M 70 56) eine abweichende Meinung der Verwaltung entnehmen lasse. Denn diese Vorschrift der Dienstanweisung regelt nur die Frage, welcher Rechtsbehelf gegen die nach § 10 Abs. 3 MGV vorgesehene Entscheidung des HZA gegeben ist; um eine solche Entscheidung handelt es sich im vorliegenden Fall aber nicht. Hier geht es um die Rücknahme eines Bescheides, mit dem die ARM festgesetzt wurde.

2. Rechtsfehlerfrei geht die Vorentscheidung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats auch davon aus, daß die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides nach § 10 Abs. 1 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG zu beurteilen ist (Senatsurteil vom 30. Oktober 1990 VII R 101/89, BFHE 162, 156).

a) Bei der Berechnung der ARM handelt es sich um einen Bescheid im Rahmen einer Mengenregelung i.S. von § 8 MOG, der im Fall seiner Rechtswidrigkeit nach § 10 Abs. 1 MOG zurückzunehmen ist (Senatsurteil vom 13. März 1990 VII R 47/88, BFHE 164, 141).

Der Senat hat mehrfach entschieden, daß es sich bei der Festsetzung der ARM um einen Verwaltungsakt des HZA handelt (zuletzt in BFHE 162, 156 m.w.N.). Im Streitfall braucht er auf die von der Vorinstanz erörterte und abgelehnte Gegenmeinung, wonach die ARM nicht durch das HZA, sondern durch den Käufer (Molkerei) als beliehenen Unternehmer festgesetzt wird, nicht einzugehen. Denn es kommt hier auf die Entscheidung dieser Streitfrage nicht an, weil das HZA - gleichgültig, wem die Festsetzung zuzurechnen ist - jedenfalls für die Rücknahme der Festsetzung zuständig ist. Selbst wenn die Festsetzung der ARM dem Käufer zuzurechnen wäre, könnte das HZA sie aufgrund seiner allgemeinen Zuständigkeit zur Durchführung der Verordnung nach § 2 MGV zurücknehmen.

Nach § 2 MGV sind grundsätzlich die zuständigen Stellen der Bundesfinanzverwaltung mit der Durchführung der Verordnung betraut. Von dieser allgemeinen Zuständigkeitsregelung besteht nur insoweit eine Ausnahme, als dies in der MGV ausdrücklich geregelt ist. Danach sind dem Käufer nur die in § 4 MGV genannten Aufgaben übertragen worden, die u.a. in der Berechnung der ARM bestehen. Diese Berechnung ist zwar vom Käufer selbständig vorzunehmen, steht aber - wie sich aus § 10 Abs. 3 MGV ergibt - unter dem Vorbehalt einer Überprüfung durch das HZA.

Nur die Entscheidung des HZA kann mit einem Rechtsbehelf angefochten werden. Dies gilt nicht nur für die erstmalige Berechnung der ARM, sondern auch für eine Neuberechnung der ARM, die der Käufer nach § 10 Abs. 1 MGV auf Antrag des Erzeugers oder aus einem sonstigen Grunde vornimmt. Daraus folgt, daß auch hinsichtlich der Neuberechnung der ARM, die zur Herabsetzung der ursprünglich berechneten ARM führt, erst das HZA nach § 10 Abs. 3 MGV eine rechtsbehelfsfähige Entscheidung erläßt.

Das HZA allein ist daher letztlich auch für die Rücknahme des Bescheides über die Berechnung der ARM nach § 10 Abs. 1 MOG zuständig (ebenso im Ergebnis FG Düsseldorf, Urteil vom 29. Juli 1992 4 K 262/88 Z, EFG 1992, 755). Diese Zuständigkeitsregelung ist gerade im Hinblick auf die bei einer Rücknahme des Bescheides nach § 48 Abs. 2 VwVfG erforderliche Beurteilung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Begünstigten geboten. Es wäre dem Käufer, mit dem der Kläger genossenschaftlich verbunden ist, nicht zuzumuten, eine solche schwierige Beurteilung vorzunehmen.

b) Nicht zu beanstanden sind auch die Ausführungen des FG zur Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Berechnung der ARM für den Kläger. Nach der für die Berechnung der ARM in diesem Zusammenhang maßgebenden Vorschrift des § 4 MGV war die von F (Verpächter) angelieferte Milchmenge nur im Rahmen des § 4 Abs. 2 Satz 2 MGV bei der Berechnung der Anlieferungsmenge des Klägers für das Kalenderjahr 1981 zu berücksichtigen. Darüber hinaus konnte die von F gelieferte Milch nicht auch für die Berechnung der Anlieferungsmenge des Klägers für das Kalenderjahr 1983 berücksichtigt werden, weil die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 MGV (Verpachtung innerhalb der Familie) nicht vorlagen. Der Senat teilt im Ergebnis auch die Ausführungen der Vorinstanz darüber, daß die vom nationalen Verordnungsgeber in § 7 Abs. 1 MGV getroffene Regelung, die nur den Betriebsübergang innerhalb der Familie begünstigt, nicht Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt.

c) Das FG hat auch richtig erkannt, daß die Rücknahme des Bescheides über die Berechnung der ARM nicht deswegen rechtswidrig ist, weil die in § 48 Abs. 4 VwVfG dafür vorgeschriebene Jahresfrist versäumt wurde. Denn der Rücknahmebescheid ist innerhalb der vorgeschriebenen Jahresfrist ab Kenntnisnahme von den seine Rechtswidrigkeit begründenden Tatsachen ergangen.

Für die Kenntnisnahme kommt es auf die Kenntnis des für die Entscheidung über die Rücknahme im Einzelfall zuständigen Amtswalters an (vgl. Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - Beschluß des Großen Senats vom 19. Dezember 1984 GrS 1 und 2.84, BVerwGE 70, 356, 364; Bundesfinanzhof - BFH -, Urteil vom 28. April 1987 IX R 9/83, BFH/NV 1988, 151, 154; Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl., § 48 Rz. 99a m.w.N.). Dies ist im Streitfall nicht der bei M für die Berechnung der ARM zuständige, sondern der beim HZA für die Rücknahme des Bescheides über die Berechnung der ARM zuständige Amtswalter, weil das HZA - wie oben ausgeführt - für die Rücknahme des Bescheides über die ARM nach § 10 Abs. 1 MOG zuständig war.

Mit dem FG geht der Senat davon aus, daß eine die Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG auslösende Kenntnis des zuständigen Amtswalters erst anzunehmen ist, wenn ihm sämtliche Unterlagen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Bescheids ergibt, vorliegen. Dies traf nach den Feststellungen des FG im Streitfall erst im Januar 1990 zu. Der Rücknahmebescheid des HZA vom Oktober 1990 ist deshalb innerhalb der nach § 48 Abs. 4 VwVfG vorgeschriebenen Jahresfrist ergangen.

d) Der Senat hat bereits in seinem Urteil in BFHE 162, 156 entschieden, daß sich der Vertrauensschutz bei einer in Betracht kommenden Rücknahme der ARM-Berechnung nach § 48 Abs. 2 VwVfG richtet (vgl. auch Dänzer-Vanotti, Anmerkung zu diesem Urteil in Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern - ZfZ - 1991, 149); davon geht auch die Vorinstanz richtigerweise aus. Der Senat sieht auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich an dieser Entscheidung geübten Kritik (Schrömbges, ZfZ 1991, 130ff.) keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

3. Rechtsfehlerhaft ist aber die Auffassung des FG, die Entscheidung über die Rücknahme des Bescheides sei - bei Vorliegen der dafür maßgebenden Voraussetzungen - eine Ermessensentscheidung. Denn § 10 Abs. 1 MOG stellt die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Bescheides nicht, wie in § 48 Abs. 1 VwVfG geschehen, in das Ermessen der Behörde, sondern hat ihr dessen Rücknahme im Rahmen des § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG zur Pflicht gemacht (BFHE 164, 141, 146). Demnach ist der Bescheid über die Berechnung der ARM zurückzunehmen, wenn der Rücknahme nicht ein nach § 48 Abs. 2 VwVfG gerechtfertigter Vertrauensschutz entgegensteht.

Ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 VwVfG vorliegen, hängt ebenfalls nicht von einer Ermessensentscheidung der Behörde ab, sondern ist eine Rechtsfrage, deren Beurteilung durch die Behörde gerichtlich voll zu überprüfen ist (BFHE 164, 141, 146; vgl. auch BVerwG-Urteil vom 14. August 1986 3 C 9.85 in 451.90 Buchholz Nr. 66 EWG-Recht; Stelkens/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 48 Rz. 95). Da das FG diese Überprüfung nicht vorgenommen und insoweit auch nicht alle erforderlichen Feststellungen hinsichtlich der für die Gewährung des Vertrauensschutzes in Betracht kommenden Tatsachen getroffen hat (§ 76 Abs. 1 FGO), kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben.

4. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:

a) Die Herabsetzung der ARM durch das HZA wirkt in die Vergangenheit zurück und hat gleichzeitig Auswirkungen auch für die Zukunft. Hinsichtlich des etwa zu berücksichtigenden Vertrauensschutzes könnte die Rechtmäßigkeit der Herabsetzung der ARM mit Wirkung für die Vergangenheit anders zu beurteilen sein als die der Herabsetzung mit Auswirkungen für die Zukunft. Sollten die noch zu treffenden Feststellungen ergeben, daß insoweit eine unterschiedliche Beurteilung geboten ist, so könnte der Bescheid über die Herabsetzung der ARM auch teilweise aufgehoben werden (vgl. Kopp, a.a.O., § 48 Rz. 51).

b) Wegen der Bindung des HZA an den Grundlagenbescheid im Hinblick auf die dadurch etwa erforderlich werdende Nacherhebung der Milch-Garantiemengenabgabe beim Kläger ist die durch die Nacherhebung eintretende nachträgliche Belastung des Klägers schon bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Herabsetzung der ARM zu berücksichtigen (BFHE 162, 156, 158; BVerwG-Urteil vom 20. März 1990 9 C 12.89, BVerwGE 85, 79). Hierauf ist das FG nicht eingegangen, obwohl es darauf im Streitfall besonders ankommt, falls der Kläger nicht, wie das HZA im Revisionsverfahren vorgetragen hat, von der Nacherhebung der Milch-Garantiemengenabgabe freigestellt worden sein sollte. Zu diesem Vorbringen des HZA enthält die Vorentscheidung keine Feststellungen.

aa) Sollte, was das FG aufzuklären haben wird, den Ausführungen des HZA im außergerichtlichen Verfahren die verbindliche Erklärung zu entnehmen sein, daß der Kläger für die in der Vergangenheit über die rückwirkend herabgesetzte ARM hinaus gelieferte Milch nicht als Schuldner der Milch-Garantiemengenabgabe in Anspruch genommen wird, oder sollte das HZA im Verlauf des weiteren Verfahrens dies verbindlich erklären, wäre zu prüfen, ob das Vertrauen des Klägers in den formalen Bestand der ARM-Berechnung für die Vergangenheit noch schutzbedürftig ist. Denn unter der genannten Voraussetzung könnte sich ergeben, daß der Kläger durch die rückwirkende Herabsetzung seiner ARM tatsächlich finanziell nicht belastet wird und demnach unter dem Gesichtspunkt des § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG die Gewährung von Vertrauensschutz nicht gerechtfertigt ist.

Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob sich schon aus dem nachrichtlichen Hinweis des HZA in seinem Anschreiben an den Kläger, mit dem der Rücknahme/Neufestsetzungsbescheid übersandt wurde, die verbindliche Erklärung des HZA über die Nichtinanspruchnahme des Klägers ergibt. Denn darin wird nur bemerkt, daß die nachzufordernden Abgaben nach gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften von der Molkerei eingezogen werden. Dieser Hinweis könnte auch dahin verstanden werden, daß die Milch-Garantiemengenabgabe vom HZA entsprechend Art. 9 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - Nr. L 90/13) in der insoweit unveränderten Fassung zunächst bei M und von dieser beim Kläger eingezogen werden soll.

bb) Soweit eine Gewährung von Vertrauensschutz hinsichtlich der rückwirkenden Herabsetzung der ARM in Betracht kommt, ist nach Auffassung des Senats folgendes zu beachten. Wenn - wie das FG angenommen hat - ein Fall des § 48 Abs. 2 Satz 3 (insbesondere Nr. 3) VwVfG nicht vorliegt, ist für die hier in Rede stehende rückwirkende Rücknahme eines begünstigenden Bescheides davon auszugehen, daß grundsätzlich der Schutz des Vertrauens des Begünstigten in den Bestand des Bescheides für die Vergangenheit Vorrang vor dem Schutz der öffentlichen Interessen hat. Das ergibt sich im Gegenschluß aus § 48 Abs. 2 Satz 4 VwVfG. Denn dort ist ausdrücklich die regelmäßige Rücknahme eines Bescheides ex tunc nur für die Fälle des § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG vorgesehen. In allen übrigen Fällen dagegen kommt somit regelmäßig nur eine Rücknahme des Bescheides ex nunc in Betracht (vgl. BFHE 164, 141, 147 m.w.N.); die rückwirkende Rücknahme eines begünstigenden Bescheides ist nur ausnahmsweise gerechtfertigt. Mit dieser Maßgabe ist § 48 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwVfG auch auf den Streitfall anzuwenden.

aaa) Dem stehen im Streitfall die für das Gemeinschaftsrecht entwickelten Grundsätze für einen Vertrauensschutz, die möglicherweise einen geringeren Schutz des Vertrauens gewähren (vgl. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH -, Urteil vom 26. April 1988 Rs. 316/86, EuGHE 1988, 2213, 2239f.), nicht entgegen. Denn hier geht es nicht um die Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht, sondern um die Befolgung von nationalem Recht, wenn auch im Rahmen einer Gemeinschaftsregelung. Die beschränkte Berücksichtigung der Milchliefermenge eines gepachteten Betriebes für den Pächter, der den Betrieb - wie im Streitfall - zwischen dem 1. Januar 1983 und dem 1. April 1984 übernommen hat, beruht nämlich nicht auf zwingendem EG-Recht. Rechtsgrundlage dafür sind vielmehr allein die nationalen Rechtsvorschriften in § 4 Abs. 2 Satz 2 und § 7 Abs. 1 MGV, die im Rahmen der in Art. 5 Unterabs.2 der Verordnung (EWG) Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 (ABlEG L 132/11) - ersetzt durch Art. 7 Unterabs.2 der Verordnung (EWG) Nr. 1546/88 der Kommission vom 3. Juni 1988 (ABlEG L 139/12) - enthaltenen Ermächtigung ergangen sind (EuGH-Urteil vom 10. Januar 1992 Rs. C-177/90, ZfZ 1992, 75). Die nationale Regelung macht von der im EG-Recht enthaltenen Ermächtigung nur im eingeschränkten Umfang Gebrauch. Die Anwendung der nationalen Regelung ist, solange sie sich im Rahmen des Gemeinschaftsrechts hält, allein nach nationalen Grundsätzen zu beurteilen. Das muß entgegen der Auffassung des HZA auch für die Frage gelten, ob Vertrauensschutz zu gewähren ist.

Selbst wenn aber auch in diesem Fall die Gewährung von Vertrauensschutz nach den von der Rechtsprechung des EuGH hierzu entwickelten Grundsätzen zu beurteilen wäre, steht dies einer Anwendung des § 48 Abs. 2 VwVfG nicht - grundsätzlich - entgegen. Denn der EuGH hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Vorschrift entschieden, daß das Gemeinschaftsrecht bei Rückforderung von zu Unrecht gewährten Leistungen nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die auf einen Vertrauensschutz oder den Grundsatz des Wegfalls der ungerechtfertigten Bereicherung abstellen, soweit das Interesse der Gemeinschaft voll berücksichtigt wird (Urteil vom 21. September 1983 Rs. 205 bis 215/82, EuGHE 1983, 2633, 2666). Aus der Forderung, daß das Gemeinschaftsinteresse voll zu berücksichtigen ist, kann nicht gefolgert werden, daß das Gemeinschaftsinteresse immer Vorrang vor dem des Betroffenen haben müßte. Vielmehr ist unter den genannten Gesichtspunkten eine Abwägung zwischen den Interessen der Gemeinschaft und denen des Begünstigten auch mit dem Ergebnis, daß im Einzelfall das berechtigte Vertrauen des Begünstigten zu schützen ist, durchaus möglich, weil andernfalls die Gewährung des vom EuGH anerkannten Vertrauensschutzes praktisch ausgeschlossen wäre. Die Zulässigkeit einer solchen Interessenabwägung hat der EuGH auch für Fälle anerkannt, in denen sich der Begünstigte ausnahmsweise auf Umstände berufen kann, aufgrund derer sein Vertrauen in die Richtigkeit der ARM-Berechnung zu schützen ist. Das nationale Gericht hat diese Umstände im Einzelfall zu würdigen (vgl. EuGH-Urteil vom 20. September 1990 Rs. C-5/89, EuGHE 1990 I-3453, 3457). Diese Abwägung hat auch der Senat in seiner zuvor genannten Entscheidung (BFHE 164, 141, 145) vorgenommen. Dabei hat er dem Gemeinschaftsinteresse grundsätzlich nur deshalb den Vorrang vor dem des Begünstigten eingeräumt, weil es in jeder Entscheidung um die Herabsetzung der ARM mit Wirkung im wesentlichen für die Zukunft ging.

bbb) Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Herabsetzung der ARM durch das HZA ist daher jedenfalls die in § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG aufgestellte Regel über die Interessenabwägung zu berücksichtigen, wobei dem Schutz des Vertrauens des Begünstigten nach § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG in der Regel der Vorrang einzuräumen ist. Das würde auch bei der vom FG unterstellten leichten Fahrlässigkeit des Klägers im Hinblick auf seine Nichtkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheides gelten. Das öffentliche Interesse an der Richtigstellung des Bescheides würde in diesem Fall grundsätzlich nicht überwiegen. Denn § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 i.V.m. Satz 4 VwVfG sieht die rückwirkende Rücknahme des Bescheides ausdrücklich nur bei Kenntnis oder auf grober Fahrlässigkeit beruhender Nichtkenntnis seiner Rechtswidrigkeit vor. Deshalb kann leichte Fahrlässigkeit allein nicht dazu führen, dem Kläger Vertrauensschutz zu versagen.

ccc) Allerdings hat das BVerwG darauf hingewiesen, daß die drei in § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG genannten Fälle nicht die einzigen sind, in denen Vertrauensschutz selbst bei Vorliegen einer Vermögensdisposition i.S. von § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG ausscheidet (BVerwG-Urteil vom 17. Februar 1993 II C 47/92, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 2764ff.). Ebenso sind dies auch nicht die einzigen Fälle, in denen eine rückwirkende Rücknahme in Betracht kommt. Der Senat teilt diese Auffassung (vgl. oben unter 4. Buchst. a, bb und Senatsurteil in BFHE 164, 141, 147). Er weist aber darauf hin, daß im vorliegenden Fall, soweit die Herabsetzung der ARM für die Vergangenheit in Rede steht, anders als in dem vom BVerwG entschiedenen Fall nur noch fiskalische Interessen, nämlich die Erhebung der Milch-Garantiemengenabgabe für die bereits gelieferte Milch, in Rede stehen. Das mit der Einführung der Milch-Garantiemengenregelung verfolgte Ziel, das Gleichgewicht im Milchsektor durch Drosselung der Milchproduktion wiederherzustellen (vgl. 4. Erwägungsgrund der Verordnung (EWG) Nr. 856/84 des Rates vom 31. März 1984 - ABlEG Nr. L 90/10), kann jedenfalls durch die Nacherhebung der Milch-Garantiemengenabgabe nicht mehr erreicht werden. Im übrigen würde die Gewährung von Vertrauensschutz gegenüber dem Kläger eine etwaige Haftung der M für die Zahlung der Milch-Garantiemengenabgabe nicht berühren, weil die etwaige Gewährung von Vertrauensschutz nur gegenüber dem Kläger wirkt und grundsätzlich keinen Einfluß darauf hat, ob die Berechnung der ARM durch die M rechtswidrig ist und diese möglicherweise dafür einstehen muß.

ddd) Der Senat hält es ferner nicht für gerechtfertigt, den Umstand, daß der unrichtigen Berechnung der ARM für den Kläger Manipulationen der M zugrunde liegen, bei der Abwägung der gegenseitigen Interessen im Rahmen von § 48 Abs. 2 VwVfG zuungunsten des Klägers zu berücksichtigen. Der Käufer ist gemäß § 4 MGV mit der Berechnung der ARM betraut und wird demgemäß gleichsam als Beauftragter des Fiskus (Senatsbeschluß vom 16. Juli 1985 VII B 53/85, BFHE 143, 523, 525), nach einer im Schrifttum vertretenen Meinung (Schrömbges, ZfZ, 1992, 101) sogar als beliehener Unternehmer, tätig. Es spricht daher nichts dafür, ein etwaiges Fehlverhalten des Käufers bei Berechnung der ARM dem Erzeuger anzulasten. Der Vertrauensschutz dürfte daher nicht mit der Begründung zu versagen sein, der Kläger könne bei dem Käufer zivilrechtlich Ersatz für die von ihm behauptete Vertrauensverletzung suchen.

c) Soweit die Herabsetzung der ARM durch das HZA Wirkungen für die Zukunft zeitigt, verweist der Senat auf sein Urteil in BFHE 164, 141, 147. Darin ist ausgeführt, daß wegen des überwiegenden öffentlichen Interesses an der Richtigstellung einer rechtswidrig zu hoch berechneten ARM Vertrauensschutzgesichtspunkte grundsätzlich nicht die Belassung der zu hohen ARM für die Zukunft rechtfertigen können.

Der Senat vermag im Ergebnis Bedenken gegen die Auffassung der Vorinstanz nicht zu erkennen, daß in diesem Verfahren die Frage nicht berücksichtigt werden kann, ob der Kläger infolge der unrichtigen Berechnung der ARM durch M nicht rechtzeitig einen Antrag nach § 6 Abs. 8 MGV auf die Zuteilung einer ergänzenden Referenzmenge stellen konnte. Im Streitfall geht es nur um die Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts, der auf der unrichtigen Berechnung der ARM durch M beruht. Ein etwaiger Vertrauensschutz kann sich daher grundsätzlich nur auf den Bestand dieses Verwaltungsakts beziehen. Darauf wird aber der hypothetische Umstand keinen Einfluß haben können, dem Kläger hätte bei richtiger Berechnung der ARM und entsprechender Antragstellung bei der zuständigen Landesstelle eine Referenzmenge zugeteilt werden können, die seine ihm rechtmäßig zustehende ARM ergänzt hätte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419658

BFH/NV 1994, 748

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