Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Wenn der Bundesfinanzhof in einem Grundsatzurteil die Verfassungswidrigkeit von Vorschriften der UStDB bejaht hat und ein Steuerpflichtiger infolgedessen mit erheblichen Erstattungen von Steuern, die auf der für nichtig erachteten Rechtsnorm beruhen, rechnen kann, so kann es ermessensfehlerhaft sein, die im Hinblick auf die zu erwartenden Erstattungen begehrte Stundung laufender unstrittiger Steuern derselben Steuerart abzulehnen.

 

Normenkette

AO §§ 127, 251, 297; FGO §§ 102, 121

 

Tatbestand

Die Steuerpflichtige hat mit Schreiben vom 12. Januar 1960 Stundung der für den Monat Dezember 1959 geschuldeten Umsatzsteuervorauszahlung in Höhe von 35.000 DM beantragt, da sie in Auswirkung des Urteils des Bundesfinanzhofs V 226/57 S vom 22. Oktober 1959 (BStBl 1959 III S. 441, Slg. Bd. 69 S. 486) mit der Erstattung von etwa 120.000 DM gezahlter, aber nicht rechtskräftig veranlagter Spinnweber-Zusatzsteuer (ß 59 UStDB 1951) rechnen könne.

Das Finanzamt hat die Stundung abgelehnt. Die Beschwerde der Steuerpflichtigen hat der Bundesminister der Finanzen durch Beschwerdeentscheidung vom 29. April 1960 zurückgewiesen. Darin wird ausgeführt, das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 22. Oktober 1959 habe nur den ihm vorgelegten Einzelfall entschieden, habe aber nicht Recht gesetzt, das für alle anderen gleichartigen Fälle verbindlich sei.

Die Beschwerdeentscheidung hat sich auf das von der Bundesregierung eingeleitete Normenkontrollverfahren bezogen, in dem die vom Bundesfinanzhof vertretene Auffassung über die Nichtigkeit der die Spinnweber-Zusatzsteuer regelnden Vorschriften bekämpft worden ist. Der Bundesminister der Finanzen hat ferner darauf hingewiesen, daß allen Steuerpflichtigen die seit Bekanntwerden des oben angeführten Urteils des Bundesfinanzhofs vom 22. Oktober 1959 zu entrichtende Spinnweber-Zusatzsteuer, d. h. die seit November 1959 fällig werdenden Beträge, gestundet worden seien. Im anhängigen Verfahren begehre die Steuerpflichtige nicht eine Stundung der fälligen Spinnweber-Zusatzsteuer, sondern eine Stundung der unstrittigen laufenden allgemeinen Umsatzsteuer. Die von ihr begehrte Stundung würde praktisch der Zurückzahlung entrichteter Steuern gleichkommen; dies könne aber erst geschehen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Auffassung des Bundesfinanzhofs bestätigen sollte. Auch die Voraussetzungen einer Aufrechnung (ß 124 AO) lägen nicht vor.

Mit ihrer Berufung hatte die Steuerpflichtige Erfolg. Das Finanzgericht ist hinsichtlich der sachlichen Rechtslage der Auffassung des Bundesfinanzhofs in dem oben angeführten Urteil beigetreten. Es hat ausgeführt, daß, wenn die Steuergerichte weiter im Sinne der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entschieden, die Rechtsstreitigkeiten endgültig im Sinne der Steuerpflichtigen entschieden werden würden, es mithin zu einer Erstattung der Spinnweber-Zusatzsteuer käme. Wenn die Verwaltung erstrebe, daß die Steuergerichte mit ihrer Entscheidung gegen die Veranlagungen warteten und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht vorgriffen, dann müsse sie den Steuerpflichtigen, die, wie im Streitfall, die umstrittene Spinnweber-Zusatzsteuer bezahlt hätten und deren Veranlagungen noch nicht rechtskräftig abgeschlossen seien, das berechtigte Interesse an einer sofortigen finanzgerichtlichen Entscheidung durch Stundung anderer unbestrittener Steuern nehmen. Die erkennende Kammer habe durch Beschluß vom gleichen Tage die anhängigen ordentlichen Rechtsmittelverfahren ausgesetzt und damit insoweit dem Begehren der Verwaltung entsprochen. Die Ablehnung der Stundung sei daher mit § 127 AO nicht vereinbar; denn nur unter der Voraussetzung der Stundung hätten die Steuergerichte die ordentlichen Rechtsmittelverfahren aussetzen können.

Hiergegen hat der Bundesminister der Finanzen Rb. eingelegt. Im Laufe des Rechtsbeschwerdeverfahrens ist der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (BStBl 1961 I S. 432) ergangen. Das Bundesverfassungsgericht hat erkannt, daß § 54 Abs. 1 UStDB 1938 - derzeit angewandt als § 59 Abs. 1 UStDB 1951 (BGBl 1951 I S. 796) - mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Nachdem die Steuerpflichtige die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 1959 inzwischen bezahlt hatte, ist der Bf. der Auffassung, daß das Rechtsmittel in der Hauptsache erledigt sei. Mit der Rb. wird beantragt, der Steuerpflichtigen gemäß § 307 Abs. 1 AO die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Die AO behandelt die Erledigung der Hauptsache nur in § 94 Abs. 2 AO für den Fall, daß dem Rechtsmittelantrage des Steuerpflichtigen der Sache nach in vollem Umfange entsprochen wird. Entsprechend dem Grundgedanken dieser Vorschrift hat der Senat im Urteil V 132/59 U vom 14. August 1963 (BStBl 1963 III S. 445) einen Rechtsstreit als in der Hauptsache erledigt angesehen, wenn in einem Verfahren wegen Ablehnung einer Stundung der Steuerbetrag, dessen Stundung begehrt worden war, inzwischen erstattet worden und der Steueranspruch erloschen ist. Andererseits hat der Bundesfinanzhof in seinem Urteil III 306/61 U vom 22. März 1963 (BStBl 1963 III S. 332) die Hauptsache nicht als erledigt angesehen, wenn während des Laufes des Rechtsmittelverfahrens gegen die Ablehnung einer Stundung die zu stundende Abgabeschuld freiwillig gezahlt oder beigetrieben wird. Der Streitfall ist dem letztgenannten Falle vergleichbar. Die Steuerpflichtige ist nicht klaglos gestellt, ihrem Antrag ist nicht entsprochen worden. Sie hat nur im Hinblick auf den oben angeführten Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gezahlt. Würde man in einem solchen Falle die Hauptsache als erledigt erklären, so würde in der Tat, wie der III. Senat a. a. O. ausführt, in den Fällen, in denen eine Stundung ermessensfehlerhaft abgelehnt worden ist, der durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Rechtsschutz wertlos sein.

Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt demnach davon ab, ob die Ablehnung der Stundung im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ermessensfehlerhaft war. Diese Frage bejaht der Senat aus folgenden Erwägungen. Es war zwar richtig, daß Gerichtsurteile - abgesehen von den Besonderheiten, die nach Art. 94 Abs. 2 GG in Verbindung mit § 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht für die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gelten - grundsätzlich nur für den entschiedenen Einzelfall Recht setzen. Allerdings ist nicht außer acht zu lassen, daß Urteile der oberen Bundesgerichte schon im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsordnung eine große Breitenwirkung haben und daß in aller Regel nach den Erkenntnissen der höchstrichterlichen Rechtsprechung verfahren wird (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs I 39/57 U vom 14. August 1958, BStBl 1958 III S. 409 ff., 412 rechte Spalte und ff., Slg. Bd. 67 S. 354). Dies gilt in besonderem Maße, wenn eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs in der Form eines Grundsatzurteils (ß 64 AO) ergangen ist und der Bundesfinanzhof - wie im Streitfalle - auch in Kenntnis der seitens der Exekutive erhobenen Einwendungen an seiner Auffassung festgehalten hat (vgl. das Urteil des erkennenden Senats V 85/60 U vom 9. Februar 1961, BStBl 1961 III S. 114, Slg. Bd. 72 S. 307). Demnach ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß die Rechtsmittel der Steuerpflichtigen im ordentlichen Rechtsmittelverfahren, die gegen die Gültigkeit der Spinnweber-Zusatzsteuer in diesem und in den gleichgelagerten Fällen schwebten, zu einem vollen Erfolge der Steuerpflichtigen und damit zur Erstattung der noch nicht rechtskräftig festgesetzten Zusatzsteuern geführt hätten.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil 1 BvR 304/60 vom 21. Februar 1961 (BStBl 1961 I S. 63, 64 rechte Spalte) zu § 251 AO (Aussetzung der Vollziehung) ausgeführt, wenn wirkliche Zweifel an der Richtigkeit von Auslegung und Anwendung des Gesetzes die Aussetzung rechtfertigten, so müsse dies auch gelten, wenn ernstliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit des Gesetzes selbst erhoben werden könnten; doch könne von einem Ermessensmißbrauch nicht die Rede sein, wenn das zuständige obere Bundesgericht die Vereinbarkeit der umstrittenen Norm mit dem GG bejaht habe. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß es der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht, die Aussetzung der Vollziehung auszusprechen, wenn umgekehrt das zuständige obere Bundesgericht die Verfassungsmäßigkeit einer Norm verneint hat. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts betreffen die Aussetzung der Vollziehung. Nun hat die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (vgl. die oben angeführten Urteile V 132/59 U vom 14. August 1963 und III 306/61 U vom 22. März 1963) schon wiederholt betont, daß sich Stundung und Aussetzung der Vollziehung in ihren Voraussetzungen und Wirkungen ähneln. Im Streitfalle, in dem die Steuerpflichtige bereits erhebliche Zusatzsteuerbeträge gezahlt hatte und nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gewiß sein konnte, daß ihre Rechtsmittel zu einer Erstattung der Zusatzsteuer führen würden, lag der Sache nach eine unbillige Härte darin, daß das Finanzamt gleichwohl auf der Zahlung der Zusatzsteuer oder auf weiterer Steuerzahlung der gleichen Steuerart ungeachtet der nach damaliger Rechtslage zu erwartenden Erstattungen bestand.

Die Rb. kann sich nicht darauf berufen, daß die Zahlung der nach dem Bekanntwerden des Urteils des Bundesfinanzhofs V 226/57 S vom 22. Oktober 1959 fällig werdenden Zusatzsteuer ausgesetzt worden ist; denn nach den Erkenntnissen der damaligen Zeit war mit einer Erstattung von rund 120.000 DM zu rechnen. Demgegenüber wurde eine Stundung von nur rund 35.000 DM begehrt. Es widerspricht aber den allgemeinen Grundsätzen von Treu und Glauben, wenn der Gläubiger auf Zahlung eines Betrages besteht, den er aller Voraussicht nach wieder zurückzahlen muß. Zwar ist die dem Bundesfinanzhof entgegengesetzte Auffassung der Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Abgesehen davon, daß in anderen, beim Bundesfinanzhof anhängigen Verfahren noch die Tragweite des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1961 zu prüfen sein wird, insbesondere die Frage, ob nicht von den Veranlagungszeiträumen 1957 oder 1958 ab die Vorschriften über die Spinnweber-Zusatzsteuer ganz oder teilweise nichtig sind - eine Frage, die in diesem Verfahren offenbleiben kann -, kommt nach Auffassung des Senats hinzu, daß die Verwaltung einerseits die Aussetzung der gegen die Veranlagungen gerichteten Rechtsmittel erstrebt und im Streitfall auch durchgesetzt hat, weil sie andernfalls spätestens beim Bundesfinanzhof unterlegen wäre, anderseits aber eine Vermeidung erheblicher überzahlungen durch Stundung der laufenden Steuern abgelehnt hat. Sie hat damit das Risiko des Ausgangs des Normenkontrollverfahrens einseitig auf die Steuerpflichtige verlagert. Der Bundesfinanzhof hat es abgelehnt, die bereits bei ihm anhängigen Verfahren auszusetzen; er hat anderseits die Rechtsmittel, bei denen es sich um die Verfassungsmäßigkeit der Textil-Zusatzsteuer handelte, auch nicht beschleunigt außerhalb der üblichen Reihenfolge entschieden. Es war also nicht so, wie in der Rechtsbeschwerdebegründung vom 10. November 1960 ausgeführt wird, daß bis zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht mit weiteren endgültigen Einzelentscheidungen nicht gerechnet werden konnte (vgl. das oben angeführte Urteil V 85/60 U vom 9. Februar 1961 am Ende). Der Bf. kann auch nicht bestreiten, daß die Verwaltung die Aussetzung der wegen der Verfassungsmäßigkeit der Spinnweber-Zusatzsteuer anhängigen Rechtsmittel erstrebt hat. Sie hat jedenfalls durchweg entsprechende Anträge bei den Instanzgerichten und auch beim Bundesfinanzhof gestellt.

Der Bf. wendet sich vor allem dagegen, daß die Stundung einer an sich unstrittigen Steuer wegen des Streites über eine andere bereits entrichtete Steuer begehrt wird. Dabei wird jedoch folgendes verkannt.

Einmal handelt es sich nur um eine Steuerart; denn auch die Spinnweber-Zusatzsteuer ist Umsatzsteuer. Zum anderen kann nicht darauf abgestellt werden, daß die zu stundende Vorauszahlung unbestritten ist, sondern es kommt doch darauf an, daß auch die Verwaltung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs mit der Erstattung erheblicher Beträge rechnen mußte, daß sie aber weitere Einzelentscheidungen des Bundesfinanzhofs, gegen die ihr ein Rechtsmittel nicht zustand, zu verhindern trachtete, ohne den Steuerpflichtigen ihr berechtigtes Interesse am Fortgange des Verfahrens durch eine Stundung zu nehmen. Solchenfalls aber hält sich die Ablehnung der Stundung nicht mehr in den Grenzen, die das Gesetz dem Ermessen zieht (ß 297 Abs. 1 AO). Schließlich sei erwähnt, daß durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1961, bedingt durch die Fragestellung der Bundesregierung, die sich auf § 54 Abs. 1 UStDB 1938 beschränkt hatte, die hier nicht zu entscheidenden Zweifelsfragen in keiner Weise ausgeräumt sind. Weder ist geklärt, ob die übrigen Vorschriften der Sonderregelung für die Textilwirtschaft gültig sind, noch ist sicher, wie in Fällen zu verfahren ist, in denen außer § 54 Abs. 1 UStDB 1938 (ß 59 Abs. 1 UStDB 1951) auch die offensichtlich nach 1951 geänderten §§ 60 ff. UStDB 1951 anzuwenden sind, und wie lange der jetzige § 59 Abs. 1 UStDB 1951 gültig ist, ob z. B. der § 59 Abs. 1 durch die Achte Verordnung zur änderung der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz vom 7. Februar 1957 oder spätere Verordnungen nicht doch ausdrücklich geändert worden ist (vgl. das Urteil des Bundesfinanzhofs V 85/60 U vom 9. Februar 1961, mit dem sich das Bundesverfassungsgericht nicht auseinandergesetzt hat; das Urteil V 85/60 U hatte über den Veranlagungszeitraum 1952 zu befinden und hat sich deshalb mit den späteren änderungen nicht abschließend auseinandergesetzt).

Endlich war zu berücksichtigen, daß die Spitzenverbände der Textilwirtschaft am Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht beteiligt waren, ihre Mitglieder deshalb auch nicht rechtzeitig über die Auffassung der Bundesregierung unterrichten konnten, die durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts überrascht wurden, weil ihnen, wie in anderen hier anhängigen Verfahren vorgetragen, die Argumentation der Bundesregierung unbekannt geblieben war.

Nach allem kommt der Senat zu der überzeugung, daß die Ablehnung der Stundung ermessensfehlerhaft war. Die Rb. ist demnach unbegründet; sie ist mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die in der Vorentscheidung ausgesprochene Zurückverweisung der Sache an das Finanzamt entfällt.

Nach § 309 AO hat die Kosten des gesamten Rechtsmittelverfahrens der Bund zu tragen.

 

Fundstellen

BStBl III 1964, 54

BFHE 1964, 136

BFHE 78, 136

StRK, AO:127 R 17

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