Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Ausschlußfrist des § 152 Abs. 3 AO beginnt erst zu laufen, wenn der Steuerpflichtige die anspruchsbegründenden Tatsachen kennt oder kennen muß.

Eine solche Kenntnis wird nicht durch jeden rechtlichen Zweifel ausgeschlossen. Das Risiko einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung trifft vielmehr den Steuerpflichtigen.

 

Normenkette

AO § 152

 

Tatbestand

Der Steuerpflichtige (Stpfl.) ist Industriekaufmann. Vom November 1952 bis Juni 1960 war er bei der indischen Tochtergesellschaft einer inländischen Aktiengesellschaft beschäftigt. Auf das ihm im Inland gezahlte Gehalt wurde Lohnsteuer abgeführt, weil er wegen der Verwertung seiner Arbeit im Inland als beschränkt steuerpflichtig galt. Im Schreiben vom 10. Dezember 1962, das nach dem Eingangsstempel am 3. Januar 1963 beim Finanzamt (FA) eingegangen ist, beantragte der Stpfl. Erstattung der für ihn für die Jahre 1957 bis 1959 abgeführten Lohnsteuer von 22.590 DM. Nach seiner Ansicht ist er durch das deutsch-indische Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) vom 18. März 1959 (BStBl I 1960, 429) rückwirkend von der deutschen Einkommensteuer frei geworden; denn während seiner Tätigkeit in Indien habe er nur dort seinen Wohnsitz gehabt. Er sei bisher nach deutschem Recht nur wegen der Verwertung, nicht aber auch wegen der Ausübung seiner Tätigkeit im Inland beschränkt steuerpflichtig gewesen. Diese Besteuerung habe aber durch Art. XII Abs. 1 DBA ihre Grundlage verloren.

Das FA wies den Antrag als verspätet zurück. Es führte aus, das DBA sei am 13. Oktober 1960 in Kraft getreten. Für Beträge, die vor dem Inkrafttreten des DBA, d. h. vor dem 13. Oktober 1960, zugeflossen seien, hätte der Erstattungsantrag spätestens am 31. Dezember 1961 gestellt werden müssen. Der Antrag des Stpfl. sei aber erst nach dem 31. Dezember 1961 beim FA eingegangen.

Die Sprungberufung blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, nach § 152 Abs. 3 AO erlösche der Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuern, wenn er nicht bis zum Ablauf des Kalenderjahres geltend gemacht werde, das auf die Entrichtung folgt. Nach der Rechtsprechung des BFH, z. B. in den Urteilen VI 136/55 U vom 5. April 1957 (BFH 71, 187, BStBl III 1960, 318), VI 240/59 vom 13. Dezember 1961 (Der Betrieb - DB - 1962, 291) und VI 90/63 U vom 29. Januar 1965 (BFH 82, 8, BStBl III 1965, 251) beginne die Ausschlußfrist des § 152 Abs. 3 AO zu laufen, sobald der Stpfl. die Tragweite der anspruchsbegründenden Ereignisse erkannt habe oder hätte erkennen müssen. Das Gesetz über das DBA sei am 15. Juni 1960 verkündet worden (BStBl I 1960, 428). Anträge auf Erstattung von Steuern auf Grund des DBA hätten deshalb nach § 152 Abs. 3 AO spätestens am 31. Dezember 1961 gestellt werden müssen. Der Einwand des Stpfl., er habe bis zur Veröffentlichung des BFH-Urteils VI 156/59 U vom 27. Juli 1962 (BFH 75, 447, BStBl III 1962, 429) auf Grund der bisherigen Rechtsprechung der Meinung sein müssen, noch einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und demnach keinen Erstattungsanspruch zu haben, sei nicht glaubwürdig. Er stehe im Widerspruch zu der steuerlichen Behandlung der Inlandbezüge durch die Arbeitgeberin. Die Antragsfrist sei am 31. Dezember 1961 abgelaufen. Es brauche darum nicht untersucht zu werden, ob der Antrag am 11. Dezember 1962 beim FA eingegangen sei, wie der Stpfl. behaupte, oder erst am 3. Januar 1963, wie der Eingangsstempel des FA besage.

Mit seiner Revision rügt der Stpfl. unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Er sei zwar, so macht er geltend, mit den ihm während seiner Tätigkeit in Indien im Inland ausgezahlten Bezügen zunächst zu Recht besteuert worden (§ 40 LStDV in Verbindung mit Abschn. 62 LStR). Die Berechtigung der Besteuerung sei aber durch das DBA rückwirkend weggefallen. Das FG nehme zu Unrecht an, daß er die Frist für die Stellung des Erstattungsantrags versäumt habe. Die Steuerabteilung seiner Arbeitgeberin könne bestätigen, daß er sich unmittelbar nach der Veröffentlichung des DBA über die Möglichkeit der Erstattung unterrichtet und dabei die Antwort erhalten habe, ein Antrag sei zwecklos, weil das DBA bei Doppelansässigkeit nicht eingreife und er, wie sich aus dem Urteil des FG Hamburg II 162, 165/58 vom 16. April 1959 (EFG 1959, 241) ergebe, trotz seines Wohnsitzes in Indien noch den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe. Auch im Spätsommer 1962 habe er noch keine zusagende Antwort erhalten. Erst im Schreiben vom 5. Dezember 1962 sei er davon unterrichtet worden, daß, nachdem inzwischen das BFH-Urteil VI 156/59 U (a. a. O.) veröffentlicht worden sei und der BFH einen gewöhnlichen Aufenthalt bei mehr als zwölfmonatiger Abwesenheit grundsätzlich verneint habe, alle Voraussetzungen für die Erstattung vorlägen. Wenn überhaupt, so sei die Frist erst am 31. Dezember 1962 abgelaufen. Zu dieser Zeit habe er aber den Antrag bereits gestellt. Er sei am 12. Dezember 1962 auf dem FA gewesen, wie eine Angestellte seiner Firma bezeugen könne. An diesem Tag habe er auch den Antrag abgegeben, wie der betreffende Beamte oder Angestellte des FA bestätigen könne.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision kann keinen Erfolg haben. Der Stpfl. hat während seines Aufenthalts in Indien keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt. Er ist danach im Inland auf Grund des § 40 LStDV (Verwertung seiner Arbeitskraft im Inland) höchstens beschränkt steuerpflichtig gewesen.

Nach Art. XII Abs. 1 DBA können Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die von einer Person bezogen werden, die in einem der beteiligten Gebiete ansässig ist, "in dem anderen Gebiet nur besteuert werden, wenn die Tätigkeit in dem anderen Gebiet ausgeübt wird". Danach hat nur der Wohnsitzstaat, nicht auch der Quellenstaat das Recht zur Besteuerung der Tätigkeit, die im anderen Staat nicht ausgeübt, sondern verwertet wird.

Nach Art. XX tritt das DBA "einen Monat nach Austausch der Ratifikationsurkunde" in Kraft und gilt dann "hinsichtlich der Steuer der Bundesrepublik für Steuern, die für das Kalenderjahr 1957 und für die folgenden Kalenderjahre erhoben werden". Das DBA ist am 13. Oktober 1960 in Kraft getreten (BGBl II 1960, 2299).

Daß der Stpfl. demnach an sich einen Erstattungsanspruch hatte (§ 152 Abs. 2 AO), ist nicht bestritten. Nach § 152 Abs. 3 AO muß ein Erstattungsanspruch aber innerhalb einer Ausschlußfrist geltend gemacht werden; er erlischt, "wenn er nicht bis zum Ablauf des Kalenderjahres, das auf die Entrichtung folgt, geltend gemacht wird".

Der Wortlaut des § 152 Abs. 3 AO stellt auf die "Entrichtung" ab. Hier könnte nur die "unrechtmäßige" Abführung der Lohnsteuer maßgebend sein. Unrechtmäßig ist die Abführung aber erst mit dem Inkrafttreten des DBA am 13. Oktober 1960 geworden. Geht man von diesem Zeitpunkt aus, so war die Frist für den Erstattungsantrag Ende 1961 abgelaufen, so daß der Antrag des Stpfl., auch wenn er ihn noch im Jahre 1962 abgegeben hätte, verspätet ist. Nachsicht ist nicht möglich, so daß es auf die "Entschuldigungsgründe", die der Stpfl. anführt, nicht ankommt.

Nach dem Urteil des Senats VI 90/63 U (a. a. O.) beginnt allerdings die Ausschlußfrist erst zu laufen, wenn der Stpfl. die "Tragweite der anspruchsbegründenden Ereignisse" erkannt oder schuldhaft nicht erkannt hat. Mit Rücksicht auf die Kürze der gesetzlichen Frist hält der Senat an dieser Auslegung des § 152 Abs. 3 AO trotz der dagegen im Schrifttum geäußerten Bedenken fest. Danach ist, wie das FG angenommen hat, zu prüfen, wann der Stpfl. die "anspruchsbegründenden Ereignisse" erkannt hat oder hätte erkennen müssen.

Wie dargelegt, stellte sich mit Veröffentlichung des DBA heraus, daß die Abführung der Lohnsteuer unberechtigt war. In diesem Zeitpunkt war der Erstattungsanspruch des Stpfl. begründet. Ohne Rechtsverstoß nimmt das FG an, daß der Stpfl., der von dem Inkrafttreten des DBA nach seinen Angaben bereits im Jahre 1960 Kenntnis erhalten hat, zu diesem Zeitpunkt seinen Erstattungsanspruch hätte geltend machen können und müssen.

Möglicherweise hat der Stpfl. im Vertrauen auf die Rechtsprechung und die Beratung durch die Steuerabteilung seiner Arbeitgeberin annehmen können, daß er einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik hatte und daß das DBA deshalb auf ihn nicht anwendbar sei. Als Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsache im Sinne der Rechtsprechung genügt aber nicht allein die "sichere" Kenntnis, daß der Anspruch besteht. Es genügt vielmehr eine Kenntnis, die den Anspruch auf Erstattung als möglich erscheinen läßt. Wenn der Stpfl. sich darauf beruft, daß er und die Steuerabteilung erst nach der Veröffentlichung des Urteils des Senats VI 156/59 U (a. a. O.) im Jahre 1962 erkannt hätten, daß kein inländischer gewöhnlicher Aufenthalt bestanden habe und damit das DBA anwendbar sei, so ändert das nichts daran, daß der Stpfl. zur Zeit seiner Tätigkeit in Indien seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Bundesrepublik, sondern in Indien hatte und lediglich eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorliegt, die zu Lasten des Stpfl. geht. Daß die Rechtsprechung beim Stpfl. einen inländischen gewöhnlichen Aufenthalt bejaht hätte, wird durch das angeführte BFH-Urteil nicht bestätigt, in dessen Fall sich der Steuerpflichtige gegen die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts gewehrt hatte.

Ob der Stpfl. nach dem von ihm vertretenen Standpunkt eine Einkommensteuererklärung hätte abgeben müssen, kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist allein, ob er bereits im Jahre 1960 den Antrag hätte stellen können und müssen oder ob er "ohne Verschulden" darauf vertrauen durfte, daß das DBA auf ihn nicht anwendbar war. Das FG konnte ohne Rechtsirrtum zu der tatsächlichen Feststellung kommen, daß der Stpfl. nach der Veröffentlichung des DBA Veranlassung gehabt hatte, den Erstattungsanspruch zu stellen, und daß es zu seinen Lasten geht, wenn er den Antrag nicht gestellt hat.

Nach allem lief die Frist des § 152 Abs. 3 AO Ende 1961 ab, so daß der Erstattungsantrag des Stpfl., auch wenn er bereits Ende 1962 (und nicht erst Anfang 1963) beim FA eingegangen sein sollte, nicht rechtzeitig gestellt ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412552

BStBl III 1967, 434

BFHE 1967, 402

BFHE 88, 402

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