Leitsatz (amtlich)

Wird gegen einen Steueranspruch mit einem Gegenanspruch aufgerechnet, für dessen Feststellung das FA nicht selbst zuständig ist, und ist der Gegenanspruch gegenüber der zuständigen Behörde noch nicht geltend gemacht worden, so genügt zur Ablehnung der Aufrechnung der Hinweis des FA, daß das Bestehen des Gegenanspruchs fragwürdig ist. An der Auffassung in dem Urteil des BFH vom 9. Dezember 1954 II 178/54 S, BFHE 60, 84, BStBl III 1955, 32, daß auch in einem solchen Fall Gegenansprüche nur dann als bestritten angesehen werden können, wenn sie mit substantiierten Gründen abgelehnt werden, wird insoweit nicht mehr festgehalten.

 

Normenkette

AO § 124

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erklärte gegenüber Einkommensteuerforderungen des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) aus 1966 bis 1973 mit Schreiben vom 28. Mai 1973 die Aufrechnung mit einem ihm angeblich zustehenden "Rückzahlungs- und Schadensersatzanspruch für Sonderopfer" und einem nach der "Kriegssachschädenverordnung anerkannten Schaden" vorerst bis zu einem Betrag von 100 000 DM. Die Ansprüche leitete er daraus her, daß er 1945 aus dem "z. Z. polnisch verwalteten Gebiet", in dem er in A ein bebautes Grundstück besessen habe, vertrieben worden sei. Er trug vor, der Mietwert dieses ihm widerrechtlich vorenthaltenen Grundstücks betrage für die Zeit vom 8. Mai 1945 bis 8. Mai 1973 665 717 DM. Bisher habe er als Ausgleich dafür vom Ausgleichsamt lediglich eine Entschädigung von 10 100 DM erhalten. Daher habe er noch einen Anspruch von 655 617 DM gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Hessen. Ein Teilbetrag davon in Höhe von 100 000 DM sei ihm durch Teilbescheid der "Notverwaltung des Deutschen Ostens" vom 10. Mai 1973 zuerkannt worden. Gestützt auf diesen Bescheid rechne er nunmehr auf.

Das FA teilte dem Kläger mit Verfügung vom 27. Juni 1973 mit, eine Aufrechnung komme nicht in Frage, weil der Kläger keine wirksamen Ansprüche besitze; außerdem fehle es an der Fälligkeit. Durch den Teilbescheid der "Notverwaltung des Deutschen Ostens" werde kein unbestrittener fälliger Ausgleichsanspruch gegen den Bund bzw. das Land Hessen begründet. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies die Oberfinanzdirektion (OFD) als unbegründet zurück, weil die Voraussetzungen des § 124 der Reichsabgabenordnung (AO) nicht vorlägen. Die "Notverwaltung des Deutschen Ostens" könne als privatrechtliche Vereinigung keine rechtskräftigen Ansprüche feststellen. Die zur Aufrechnung gestellte Forderung des Klägers sei auch nicht unbestritten. Die behaupteten Ansprüche seien in ihrem rechtlichen Bestand sehr fragwürdig und berührten zahlreiche völkerrechtliche Fragen, die in der Fachliteratur keineswegs in allen Punkten einheitlich beantwortet würden. Für eine abschließende Prüfung seien die Finanzbehörden nicht zuständig.

Die Klage wies das Finanzgericht (FG) mit der Begründung ab, daß die Gegenansprüche weder rechtskräftig festgestellt noch unbestritten seien (§ 124 AO).

Mit der Revision rügt der Kläger, das FG habe seine Grundrechte verletzt. Durch das Zustimmungsgesetz vom 23. Mai 1972 zum Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 (BGBl II 1972, 361) sei er entschädigungslos nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) enteignet worden. Die Bundesrepublik Deutschland habe ihn, nur weil er seine Heimat in Ostpreußen gehabt habe, ungleich stärker zur Tragung der Kriegsfolgelasten herangezogen als die Bürger, deren Vermögen im Rechtsgebiet der Bundesrepublik Deutschland liege und gelegen habe. In seinem grundrechtsähnlichen Recht nach Art. 20 Abs. 1 GG sei er dadurch verletzt worden, daß die Bundesrepublik Deutschland entgegen dem allgemeinen Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip zu seinen Gunsten keine gesetzliche Entschädigungsregelung getroffen habe. An der zunächst vertretenen Auffassung, daß der zur Aufrechnung gestellte Gegenanspruch rechtskräftig festgestellt sei, werde zwar nicht festgehalten. Zu Unrecht habe aber das FG die Gegenforderung nicht als unbestritten i. S. des § 124 AO anerkannt.

Während des Revisionsverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine die Gültigkeit des Warschauer Vertrags betreffende Verfassungsbeschwerde, die der Prozeßbevollmächtigte des Klägers (Beschwerdeführer) im eigenen Namen erhoben hat, nicht zur Entscheidung angenommen (Entscheidung vom 7. Dezember 1976 1 BvR 517/72). In den Gründen ist ausgeführt, der Beschwerdeführer sei durch das Zustimmungsgesetz nicht unmittelbar rechtlich betroffen. Der Warschauer Vertrag sei nicht geeignet, unmittelbare Verhaltungspflichten einzelner zu begründen oder sonstige durch Art. 14 GG grundrechtlich geschützte individuelle Rechtspositionen zu verschlechtern (BVerfG-Beschluß vom 7. Juli 1975 1 BvR 274 usw., BVerfGE 40, 141, 164 ff.). Da der Beschwerdeführer durch den Warschauer Vertrag weder tatsächlich noch rechtlich benachteiligt sei, komme weder eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 3 GG allein oder i. V. m. den Grundsätzen des Sozialstaates (Art. 20 Abs. 1 GG) oder des Rechtsstaates, soweit dies der Beschwerdeführer aus Art. 20 GG ableite, in Betracht.

Der Kläger sieht sich durch diese Entscheidung in seiner Ausgangsrechtsauffassung darüber bestätigt, daß sein Grundeigentum in Ostpreußen auch durch den Warschauer Vertrag nicht untergegangen sei. Er meint, nach § 1 Abs. 1 der Kriegssachschädenverordnung (KSSchVO) vom 30. November 1940 (RGBl I 1940, 1547) stehe ihm daher ein Entschädigungsanspruch von 655 617 DM gegen die Bundesrepublik Deutschland für nicht erzielbare Mieteinnahmen einschließlich Zinsen und Zinseszinsen aus seinem in Ostpreußen gelegenen Grundbesitz zu, weil die Bundesrepublik Deutschland nichts unternommen habe, nichts unternehme und nichts unternehmen werde, um diese Ansprüche gegen die Volksrepublik Polen durchzusetzen, der Kläger aber seine Ansprüche in der Volksrepublik Polen prozessual nicht geltend machen könne.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung, die Verfügung des FA vom 27. Juni 1973 und die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 24. März 1975 aufzuheben und die Aufrechnung des Klägers vom 28. Mai 1973 für begründet zu erklären.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Nach § 124 AO sind die Steuerpflichtigen berechtigt, gegen Steueransprüche mit unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Gegenansprüchen aufzurechnen. Zweck dieser Regelung ist es, grundsätzlich dem Steuerpflichtigen die Aufrechnung mit Gegenforderungen gegen Steuerforderungen zu ermöglichen, das FA aber von der Feststellung des Bestehens dieser Gegenforderungen in ein und demselben Verfahren freizustellen. Mit der Erklärung der Aufrechnung muß daher der Steuerschuldner dartun, daß die zur Aufrechnung gestellte Forderung entweder rechtskräftig festgestellt oder unbestritten ist. Dadurch sollen vor allem Schwierigkeiten vermieden werden, die sich ergeben, wenn für die Feststellung des Bestehens der Steuerforderung und der Gegenforderung verschiedene Behörden zuständig sind (s. Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 124 Anm. 2 e). Ob die Gegenforderung rechtlich begründet ist, kann nur in dem Verfahren gegen die zuständige Behörde bzw. gegen den jeweiligen Schuldner der Gegenforderung entschieden werden. Demnach kann auch der Begriff "unbestritten" nur auf das Bestreiten dieser Behörde bzw. dieses Schuldners bezogen werden (s. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 124 AO Anm. 4 Abs. 2).

Rechnet dagegen der Steuerschuldner mit einer Forderung auf, die ihm gegenüber dem FA zusteht, z. B. einem Erstattungsanspruch, so kann das FA selbst feststellen, ob dieser Anspruch zu Recht besteht. In diesem Fall kann es nicht genügen, daß das FA aus lediglich formalen und nicht sachlich beachtenswerten Gründen die Aufrechnung ablehnt. Insoweit schließt sich der Senat der in dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 9. Dezember 1954 II 178/54 S, BFHE 60, 84, BStBl III 1955, 32, vertretenen Auffassung an.

Ist jedoch eine andere Behörde für die Feststellung des Bestehens der zur Aufrechnung gestellten Forderung zuständig, so ist es Sache des Steuerschuldners darzulegen, daß diese Forderung entweder rechtskräftig festgestellt oder unbestritten ist. Hat er die Forderung gegen die zuständige Behörde noch nicht erhoben, so kann die Forderung von vornherein nicht als unbestritten gelten, da die zuständige Behörde noch keine Gelegenheit hatte, das Bestehen der Forderung zu prüfen und sie ggf. zu bestreiten. In einem solchen Fall kann daher erst recht nicht das nicht für die Feststellung zuständige FA gehalten sein, substantiierte Einwendungen gegen das Bestehen der Gegenforderung zu erheben, wie der Kläger unter Berufung auf das BFH-Urteil II 178/54 S meint. Zur Ablehnung der Aufrechnung, deren Voraussetzung der aufrechnende Abgabenschuldner - wie gesagt - darzulegen und ggf. zu beweisen hat, genügt dann der Hinweis darauf, daß die Forderung noch nicht rechtskräftig festgestellt oder fragwürdig sei. Der in dem genannten Urteil des II. Senats, dessen Zuständigkeit zur Beurteilung der Wirksamkeit einer Aufrechnung auf den erkennenden Senat übergegangen ist, vertretenen gegenteiligen Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Aus dem in dem Urteil des II. Senats angeführten Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22. Januar 1954 I ZR 34/53 (BGHZ 12, 136) kann der Kläger keine für sich günstigen Schlüsse ziehen; denn § 124 AO enthält hinsichtlich der Frage, wann ein Steuerschuldner eine Aufrechnung erklären kann, eine eigenständige Sonderregelung, soweit es um die Anforderung geht, die an den Nachweis des Bestehens der angeblichen Forderung des Aufrechnenden zu stellen sind (s. auch Martens, die Aufrechnung im Steuerrecht, Steuer und Wirtschaft 1974 S. 155, 159; M. Burmester, Die Verrechnung von Steuerforderungen, Schriften zum Steuerrecht Band 16, 75). Durch sie soll verhindert werden, daß dem FA eine Entscheidung über eine noch aufklärungsbedürftige Gegenforderung aufgedrängt wird (Tipke-Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 226 AO 1977 Anm. 15 Abs. 3).

Im Streitfall hat das FG im Ergebnis zu Recht festgestellt, daß die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche nicht unbestritten sind. Die "Notverwaltung des Deutschen Ostens" ist eine privatrechtliche Vereinigung und kann daher nicht etwa als zuständige Behörde für die Feststellung des geltend gemachten Ausgleichsanspruchs angesehen werden. Der Kläger hat auch offensichtlich insoweit nicht mehr auf dem durch den "Teilbescheid" dieser Vereinigung erhaltenen angeblichen Anspruch im Revisionsverfahren bestanden. Vom Ausgleichsamt hat der Kläger lediglich eine Entschädigung in Höhe von 10 100 DM erhalten. Da der Kläger nicht vorgetragen hat, daß ihm weitere Entschädigungen von diesem Amt zugesagt oder anerkannt sind, ist davon auszugehen, daß etwaige Ansprüche insoweit nicht anerkannt werden und daher bestritten i. S. des § 124 AO sind. Hinsichtlich der wegen der Verletzung der Grundrechte in Art. 3 Abs. 1, Abs. 3, Art. 14 und Art. 20 GG geltend gemachten Schadensersatzforderungen (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) hat bereits das BVerfG in dem Nichtannahmebescheid vom 7. Dezember 1976 festgestellt, daß eine Verletzung dieser Grundrechte schon deshalb nicht in Betracht komme, weil der einzelne durch das Zustimmungsgesetz zum Warschauer Vertrag weder tatsächlich noch rechtlich unmittelbar betroffen sei. Da der Kläger nicht vorgetragen hat, ob und bei welcher Stelle er derartige Schadensersatzansprüche geltend gemacht hat und das FA auch hierfür nicht zuständig wäre, konnte das FA mit Recht diese Ansprüche als fragwürdig und damit als nicht unbestritten i. S. des § 124 AO ansehen und die Aufrechnung ablehnen. Das gleiche gilt für die auf die Kriegssachschädenverordnung vom 30. November 1940 gegründeten Ansprüche.

 

Fundstellen

Haufe-Index 73238

BStBl II 1979, 690

BFHE 1979, 160

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