Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Beschränkt ein Steuerpflichtiger sein Rechtsmittel gegen einen Einheitswertbescheid auf einen Teil (Wertansatz) des Bescheides, so sind die Rechtsmittelbehörden gleichwohl berechtigt und verpflichtet, den ganzen Steuerfall aufzurollen und durchzuprüfen.

Es können deshalb Ergebnisse einer Betriebsprüfung, die während des Einspruchsverfahrens stattgefunden hat, bei der Einspruchsentscheidung auf Grund von § 243 Abs. 3 AO auch zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden.

 

Normenkette

AO § § 243, 248/1, § 248/2; FGO § 76/1, § 96; AO §§ 246, 204 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Einheitswert des gewerblichen Betriebes der Bfin. wurde auf den 21. Juni 1948 auf 77.600 DM festgestellt. Dabei setzte das Finanzamt für das Betriebsgrundstück entsprechend dem Werte in der DM-Eröffnungsbilanz einen Wert von 131.580 DM an, während der Einheitswert dieses Grundstückes 58.800 DM betrug und in dieser Höhe von der Bfin. in ihre Vermögensaufstellung auf den 21. Juni 1948 eingestellt worden war.

In der Einspruchsentscheidung entsprach das Finanzamt dem Antrage der Bfin. und setzte den Wert des Grundstücks mit 58.800 DM ein. Während des Einspruchsverfahrens hatte eine Betriebsprüfung stattgefunden. In der Einspruchsentscheidung verwertete das Finanzamt auch die Ergebnisse der Betriebsprüfung. Es änderte den Wertansatz für Garantierückstellungen von 1.500 DM auf 15.000 DM; ließ den Abzug von Schulden in Höhe von 54.486 DM für Unterhaltsverbindlichkeiten und ferner den Abzug einer Rückerstattungsverpflichtung in Höhe von 12.700 DM nicht mehr zu. Dementsprechend stellte das Finanzamt den Einheitswert des Betriebsvermögens auf 96.500 DM fest.

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht wies den Einwand der Bfin., sie habe lediglich den Wertansatz hinsichtlich des Betriebsgrundstückes angefochten, eine darüber hinausgehende Berichtigung des Einheitswertbescheides sei deshalb nicht zulässig, zurück. In übereinstimmung mit dem Finanzamt lehnte das Finanzgericht einen Schuldenabzug für Unterhaltsverpflichtungen und Rückerstattung ab. Dagegen ließ das Finanzgericht eine Garantierückstellung in Höhe von 2.200 DM zu. Dadurch und infolge Erhöhung der in Abzug zu bringenden Kreditgewinnabgabe ergab sich ein Einheitswert von 106.000 DM.

Mit der Rb. macht die Bfin. geltend, daß sich ihr Einspruch nur auf die Berichtigung des Wertansatzes des Betriebsgrundstückes erstreckt habe. Die Berichtigung der übrigen Wertansätze verstoße gegen Treu und Glauben.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. hat keinen Erfolg.

Nach der Regelung des § 243 AO, wonach einerseits die Rechtsmittelbehörden verpflichtet sind, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und - daraus folgend - andererseits an Anträge dessen, der das Rechtsmittel eingelegt hat, nicht gebunden sind (§ 243 Abs. 1 und 2 AO - Amtsprinzip -), ergibt sich für die Rechtsmittelinstanzen die Berechtigung und die Verpflichtung, im Rechtsmittelverfahren einen Steuerfall im ganzen aufzurollen und nachzuprüfen. Die Rechtsmittelinstanzen sind deshalb nicht gehindert, über den Antrag des Rechtsmittelführers hinaus den Steuerfall zu prüfen (vgl. § 243 Abs. 2 AO; Urteile des Reichsfinanzhofs III A 273/30 vom 2. Oktober 1930, RStBl 1932 S. 214; VI A 1694/30 vom 5. November 1930, Slg. Bd. 27 S. 270; Urteil des Bundesfinanzhofs VI 219/56 vom 28. November 1958, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 243 Rechtsspruch 15). Der Nachprüfung des Steuerfalles ohne Rücksicht auf die Anträge des Rechtsmittelführers entspricht die Befugnis der Rechtsmittelinstanzen zu verbösern (§ 243 Abs. 3 AO). Die Verböserung ist nicht davon abhängig, daß neue Tatsachen oder Beweismittel bekanntgeworden sind, die eine solche änderung rechtfertigen, oder daß diese änderung sich auf eine abweichende rechtliche Beurteilung gründet. Die Verböserung ist schlechthin zulässig. Die einzige Voraussetzung dafür ist lediglich, daß rechtliches Gehör gewährt worden ist (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 1694/30 vom 5. November 1930, a. a. O.; Urteile des Bundesfinanzhofs III 286/57 U vom 4. September 1959, BStBl 1959 III S. 472, Slg. Bd. 69 S. 569; VI 63/59 vom 16. September 1960, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 243 Rechtsspruch 23 b; IV 235/59 U vom 11. Januar 1962, BStBl 1962 III S. 223, Slg. Bd. 74 S. 603). Das Schrifttum ist überwiegend der Rechtsprechung gefolgt (vgl. Becker, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 228 Anm. 1; Riewald, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 2. Teil, § 243 Anm. 1 Abs. 3; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 243 Anm. 4; Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis, 3. Aufl., § 243 Anm. 2 bb). Soweit Kühn (Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 243 Anm. 2) eine andere Auffassung vertritt, könnte der Senat diese Auffassung nicht teilen.

Hat das Finanzamt von der Berechtigung zur Wiederaufrollung des Steuerfalles Gebrauch gemacht, so ist dadurch der Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletzt. Wer ein Rechtsmittel einlegt, muß mit der Möglichkeit der gesetzlich vorgesehenen Verböserung rechnen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs VI 219/56 vom 28. November 1958, a. a. O.).

Das Finanzgericht hat diese Grundsätze beachtet. Es hat festgestellt, daß das Finanzamt bei seiner Verböserung rechtliches Gehör gewährt hat. Auch soweit das Finanzgericht über die Einspruchsentscheidung hinaus verbösert hat, ist der Bfin. rechtliches Gehör gewährt worden.

Finanzamt und Finanzgericht haben sich bei der Anwendung des § 243 Abs. 3 AO auch im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens gehalten. Denn nur in Fällen untergeordneter Bedeutung oder bei besonderen Umständen wäre es gerechtfertigt gewesen, die Verböserung zu unterlassen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 235/59 U vom 11. Januar 1962, a. a. O.). Daß im Streitfalle besondere Umstände vorgelegen hätten, die ein Absehen von der Verböserung geboten hätten, ist nicht erkennbar.

 

Fundstellen

Haufe-Index 423990

BStBl III 1963, 412

BFHE 1964, 256

BFHE 77, 256

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