Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Steuerliche Förderungsgesetze

 

Leitsatz (amtlich)

Liegen zwei Beschwerdeentscheidungen der Verwaltungsbehörden, einer Oberfinanzdirektion und eines Finanzministeriums, vor und ist in der einen über einen Erlaßantrag und in der anderen über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ablehnend entschieden worden, so kann in dem Verfahren vor dem Finanzgericht, das nur gegen eine der beiden Entscheidungen anhängig gemacht wurde, nicht auch über den anderen Antrag entschieden werden.

Ist in einem Vermögensabgabebescheid die Rechtsmittelbelehrung unrichtig, weil in ihr der Nachsatz "es sei denn, daß das zuzustellende Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist" fehlt, und ist seit der Bekanntgabe des Bescheids etwa ein Jahr verstrichen, so kann der Bescheid auch dann nicht mehr angefochten werden, wenn in dem Vermögensabgabebescheid der an sich in Betracht kommende doppelte Freibetrag nach § 29 LAG nur einmal gewährt worden ist.

 

Normenkette

AO § 246 Abs. 3, § 237 Abs. 2, § 211 Abs. 1, §§ 251, 242 Abs. 1; VwZG § 17; LAG §§ 29, 38, 203/1

 

Tatbestand

Am 21. Juni 1948 besaßen die Eltern der Bfin. ein Vermögen, das aus einem landwirtschaftlichen Betrieb und aus Weinbauvermögen bestand. In seiner Vermögensanzeige und Selbstberechnung der Soforthilfeabgabe (SHA) hatte sich der Vater der Bfin. als Alleineigentümer dieses Vermögens bezeichnet. Nach einer Feststellung des Finanzamts im Jahre 1962 lebten die Eltern der Bfin. aber bereits am 21. Juni 1948 im ehelichen Güterstand der Errungenschaftsgemeinschaft.

Der einzige Sohn, Bruder der Bfin., erhielt nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im September 1948 einen Teil des elterlichen Vermögens übertragen, sah sich aber in der Folgezeit gezwungen, das ganze ihm übertragene Vermögen an Dritte zu veräußern.

Der Vermögensabgabe wurde ein Vermögen in Höhe von 37.930 DM und ein ehemaliges jüdisches Vermögen von 1.770 DM, insgesamt in Höhe von 39.700 DM unterworfen. Der Vierteljahresbetrag betrug 182.90 DM. Die Veranlagung erfolgte am 10. November 1955, ein Rechtsmittel wurde gegen den Vermögensabgabebescheid innerhalb der Rechtsmittelfrist nicht eingelegt. Die Veranlagung wurde am 9. Juni 1960 auf Grund des § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG um das zurückgegebene ehemals jüdische Vermögen berichtigt und der Vierteljahresbetrag auf 170,80 DM herabgesetzt. Gleichzeitig wurde dieser Betrag ab 1. Oktober 1958 um 27 DM auf Grund einer Schuldübernahme nach § 60 LAG gemindert.

Die Bfin. wurde am 29. Juli 1953 von ihren Eltern durch Erbvertrag als Alleinerbin eingesetzt. Nach dem Tode ihres Vaters im Jahre 1954 schloß sie am 28. März 1955 mit ihrer Mutter einen übergabevertrag. Der Grundbesitz der Eltern, der am 21. Juni 1948 11,48 ha groß war, hatte infolge von übertragungen an den Sohn und an Dritte im Zeitpunkt des Abschlusses des übergabevertrags nur noch eine Größe von 3,64 ha. Diesen restlichen Teil erhielt die Bfin. gegen die Verpflichtung zur Zahlung einer lebenslänglichen Rente und gegen übernahme der Schulden der Mutter. Da nach dem Tode der Mutter im März 1958 die Bfin. die Erbschaft nicht ausschlug, ging die volle Vermögensabgabeschuld auf sie über, obwohl sie nur etwa 1/3 des Vermögens der Eltern am 21. Juni 1948 erhalten hatte.

Die Bfin. hat auf zwei verschiedenen Wegen versucht, eine Herabsetzung des Vierteljahrsbetrags zu erreichen. Sie hat einmal einen Teilerlaß des Vierteljahrsbetrags angestrebt und zum anderen eine Aussetzung der Vollziehung nach § 251 AO beantragt.

Den Antrag, den Vierteljahresbetrag insoweit, als er auf das auf ihren Bruder übertragene Vermögen entfällt, entweder aus dem Gesichtspunkt des Vermögensverfalls oder aus allgemeinen Billigkeitsgründen oder aus dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu erlassen, wurde von der Oberfinanzdirektion und auf die Beschwerde von dem Finanzministerium durch Bescheid vom 21. Januar 1961 abgelehnt. Ohne auf diese mit einer unvollständigen Rechtsmittelbelehrung versehene Entscheidung Bezug zu nehmen, stellte die Bfin. kurz darauf am 17. März 1961 wegen ihrer finanziell schwierigen Lage erneut den Antrag auf Erlaß der Vermögensabgabe. Mit Schreiben vom 24. Juli 1961 erklärte sie, auf diesem Antrag bestehen zu müssen. In gleichem Sinne äußerte sie sich mit Schreiben vom 29. Juli 1961. Der Vertreter der Bfin. bestätigte zwar, daß ihm die Entscheidung des Finanzministeriums bekannt sei, gab aber darüber keine Erklärung ab, ob der erneut gestellte Erlaßantrag als Berufung gegen die Entscheidung des Finanzministeriums gelten solle.

Mit Schreiben vom 5. (6.) Januar 1962 und 5. (6.) März 1962 stellte die Bfin. den Antrag, die Vollziehung des Vermögensabgabebescheids nach § 251 AO im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 29/57, 1 BvL 20/60 vom 21. Februar 1961 (BStBl 1961 I S. 55) auszusetzen. In dem Schreiben vom 23. (24.) März 1962 wies sie darauf hin, die Rechtsmittelbelehrung in dem Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 sei unvollständig und der Bescheid sei deshalb nicht in Rechtskraft erwachsen.

Das Finanzamt hat auf den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 251 AO lediglich einen Teilbetrag von 55 DM bis zum 31. Dezember 1962, längstens jedoch bis zum Ergehen eines Herabsetzungsbescheides nach § 55 c LAG gestundet.

Die dagegen eingelegte Beschwerde lehnte die Oberfinanzdirektion durch Entscheidung vom 25. April 1962 ab.

Die Berufung wendet sich nur gegen die ablehnende Entscheidung der Oberfinanzdirektion, wie sich aus der Angabe des Aktenzeichens dieser Entscheidung einwandfrei ergibt. Gleichwohl wird beantragt, sowohl über den Erlaßantrag wie über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu entscheiden.

Das Finanzgericht wies die Berufung als unbegründet zurück. Es führt aus: § 251 AO komme für eine Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides nur dann in Betracht, wenn gegen den Bescheid ein Rechtsmittel eingelegt worden sei. Das habe die Bfin. ihrem Schriftsatz vom 24. September 1962 zufolge auch erkannt. Zunächst habe aber die Bfin. den Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 hingenommen und sich auf die Stellung eines Erlaßantrags und auf Einwendungen gegen die Ablehnung dieses Antrags beschränkt. Auch mit dem Schreiben vom 24. Juli 1961 habe sie kein Rechtsmittel eingelegt; denn sie habe darin erklärt, Ziel ihrer Ausführungen solle "im Augenblick nur die Beitragung zur Klärung des Sachverhalts sein", im übrigen wolle sie "auf jeden Fall ihre Rechte an anderer Stelle suchen". Daß die Bfin. damals nicht den Willen gehabt habe, ein Rechtsmittel einzulegen, werde durch die Tatsache bestätigt, daß sie in ihrem späteren Schriftwechsel mit dem Finanzamt nicht darauf gedrungen habe, ihr Schreiben vom 24. Juli 1961 als Rechtsmittel gegen den Vermögensabgabebescheid aufzufassen. Wenn sie in dem nachfolgenden Schreiben vom 23. März 1962 auf die Unvollständigkeit der Rechtsmittelbelehrung in dem Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 hingewiesen habe, so habe sie damit nur zu erkennen gegeben, daß sie bis dahin nicht auf den Gedanken gekommen sei, den Vermögensabgabebescheid als noch anfechtbar zu betrachten. Aber selbst dann, wenn tatsächlich ein Rechtsmittel gegen den Vermögensabgabebescheid eingelegt worden sei, müßte die Berufung als unbegründet zurückgewiesen werden. Der Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 habe einen bereits rechtskräftigen Bescheid geändert und könne nicht einmal im Rahmen dieser änderung nach § 234 AO angefochten werden, da die Bfin. durch die änderung nicht beschwert, sondern begünstigt worden sei. Auf die Frage, ob die Rechtsmittelfrist für den Bescheid in Lauf gesetzt worden sei, komme es nicht an. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung könne aber auch nicht auf § 79 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) gestützt werden, da diese Vorschrift nach ihrem klaren Wortlaut voraussetze, daß das Bundesverfassungsgericht die Rechtsnorm, über die das Gericht entschieden habe, für nichtig erkläre. Das Bundesverfassungsgericht habe aber weder den § 29 LAG noch den § 38 LAG für nichtig erklärt. Die Aussetzung der Vollziehung könne schließlich auch nicht auf § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO gestützt werden, da diese Vorschrift infolge der durch § 55 c LAG geschaffenen Sonderregelung nicht anwendbar sei.

Was den Antrag auf Erlaß anbelange, so habe sich die Bfin. erst durch ihren Schriftsatz vom 4. (6.) Mai 1962 an das Finanzgericht gewandt, in einem Verfahren, das nicht einen Billigkeitserlaß, sondern die Aussetzung der Vollziehung des Vermögensabgabebescheids zum Gegenstand gehabt habe. Da sie aber durch ihr Verhalten über den Ablauf eines Jahres hinaus bekundet habe, sich mit der Beschwerdeentscheidung des Finanzministeriums zufrieden zu geben, habe sie ihr Anfechtungsrecht verwirkt.

Die Bfin. hat die von ihr eingelegte Rb. nicht begründet.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. kann zu keinem Erfolg führen.

I. - Die Bfin. hat vor den Verwaltungsbehörden zwei Verfahren in Gang gebracht. Das eine Verfahren betrifft den Teilerlaß des Vierteljahrsbetrags; es hat zur Beschwerdeentscheidung des Finanzministeriums geführt. Das andere Verfahren hat den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 251 AO zum Gegenstand und hat im Bereich der Verwaltung seinen Abschluß durch die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion erfahren. Mit der Berufung hat die Bfin. einen Antrag sowohl auf Erlaß wie auf Aussetzung der Vollziehung gestellt, hat sich aber in beiden Schreiben (Schreiben vom 4. (6.) Mai 1962 und vom 18. Juni 1962) ausschließlich auf die "Oberfinanzdirektion" und auf das Aktenzeichen der von dieser getroffenen Entscheidung vom 25. April 1962 bezogen. Der Wille der Bfin. geht möglicherweise dahin, daß in dem Verfahren, das sich nur gegen den ablehnenden Antrag auf Aussetzung der Vollziehung richtet, auch über den Antrag auf Erlaß entschieden und ein besonderes finanzgerichtliches Verfahren gegen die Entscheidung des Finanzministeriums nicht in Gang gebracht werden soll.

Die AO kennt ein solches Verfahren nicht. Es ist auch nicht möglich, den nach der ablehnenden Entscheidung des Finanzministeriums wiederholten Erlaßantrag als neuen Antrag anzusehen. Verfahrensmäßig kann bei gleichbleibendem Tatbestand der Antrag auf Erlaß nur durch Einlegung der Berufung gegen die Beschwerdeentscheidung des Finanzministeriums weiter verfolgt werden. Hat dies, was noch zu prüfen wäre, die Bfin. mit ihrem neuen Antrag beabsichtigt, so hat sie bei dem Finanzgericht zwei Verfahren anhängig gemacht. In diesem Falle ging der Wille der Bfin. dahin, beide Verfahren zu verbinden.

Es ist allgemein anerkannt, daß die Rechtsmittelbehörden nach pflichtmäßigem Ermessen Verfahren über verschiedene Rechtsmittel desselben Steuerpflichtigen miteinander verbinden dürfen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs II 248/60 U vom 11. April 1962, BStBl 1962 III S. 320, Slg. Bd. 75 S. 143, und die dort angeführte frühere Rechtsprechung). Da die Verbindung von zwei Rechtsmitteln eine prozeßleitende Verfügung ist, kann sie nicht von dem Steuerpflichtigen, sondern nur von der Rechtsmittelbehörde vorgenommen werden. Das Finanzgericht hat zwar anerkannt, daß die Bfin. sachlich die Entscheidung des Finanzministeriums angreife, hat sich aber auf den Standpunkt gestellt, daß es die von der Bfin. nach der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion vom 25. April 1962 eingereichten Schriftsätze nur als gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung im Sinne des § 237 Abs. 2 AO behandeln konnte. Damit hat es eine Verbindung abgelehnt. Daß es am Schluß seiner Ausführungen auch zu dem Antrag auf Erlaß Stellung genommen und das Anfechtungsrecht gegen die Beschwerdeentscheidung des Finanzministeriums als verwirkt bezeichnet hat, ist zwar zu beanstanden, kann aber zu keiner anderen Beurteilung führen.

II. - Nach § 251 AO wird durch Einlegung eines Rechtsmittels die Wirksamkeit des angefochtenen Bescheids nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung einer Steuer nicht aufgehalten. Die Behörde, die einen Bescheid erlassen hat, kann die Vollziehung aussetzen, geeignetenfalls gegen Sicherheitsleistung. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bezieht sich auf den Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960, dessen Rechtsmittelbelehrung unbestritten unvollständig war. Eine Rechtsmittelbelehrung ist aber auch dann unrichtig im Sinne des § 246 Abs. 3 AO, wenn sie unvollständig ist.

Das Finanzgericht hat sich zwar auf den Standpunkt gestellt, der berichtigte Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 sei deshalb nicht anfechtbar, weil keine Beschwer der Bfin. vorliege (ß 234 AO) und daß es deswegen auf die Frage, ob die Rechtsmittelfrist für den Bescheid in Lauf gesetzt wurde, nicht ankomme. Dies trifft jedoch nur dann zu, wenn der ursprüngliche Vermögensabgabebescheid vom 10. November 1955 im Zeitpunkt der Berichtigung unanfechtbar war. Nach herrschender Meinung kommt eine Beschränkung des Anfechtungsrechts gegenüber dem berichtigten Bescheid nach keiner Richtung in Betracht, wenn der ursprüngliche Bescheid im Zeitpunkt seiner Berichtigung noch nicht unanfechtbar geworden war. In diesem Fall hat der Steuerpflichtige das Recht, den berichtigten Bescheid in vollem Umfang anzugreifen (vgl. Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis, § 234 Anm. 1 a; Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 234 Anm. 3; Riewald, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 234 Anm. 2 (7) und 3; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 234 Anm. 4; Urteile des Reichsfinanzhofs VI A 195/33 vom 14. März 1933, RStBl 1933 S. 349, und VI A 477/34 vom 4. Juli 1934, RStBl 1934 S. 989). Zwar hat die Bfin. die unrichtige Rechtsmittelbelehrung nur gegenüber dem Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 geltend gemacht. Gleiches ist aber nach Sachlage auch bei dem ursprünglichen Vermögensabgabebescheid anzunehmen, so daß auch bei diesem Bescheid die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt wurde. Die Frage, ob der Vermögensabgabebescheid vom 10. November 1955 unanfechtbar geworden ist, ist im vorliegenden Streitfall deshalb rechtserheblich.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts VII C 36/58, das entschieden hatte, daß eine Rechtsmittelbelehrung, die nur den Satz enthält, die Zustellung gilt am dritten Tage nach dem Datum des Poststempels als bewirkt, fehlerhaft ist und die Frist nicht in Lauf setzt, ist am 4. Dezember 1959 ergangen (veröffentlicht in Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1960 S. 1074 Heft 23 vom 3. Juni 1960). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die §§ 38 und 29 Abs. 1 LAG zwar als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar, aber als fehlerhaft ausgelegt erklärt hat, erging am 21. Februar 1961. Unterstellt man in übereinstimmung mit dem Finanzgericht, daß die Bfin. sich mit dem Schreiben vom 24. Juli 1961 erstmals gegen den Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 gewendet hat, so liegt dieses Schreiben etwa ein Jahr nach dem Bekanntwerden des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts und etwa ein halbes Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, während beide Urteile erst lange nach Erlaß des Vermögensabgabebescheides vom 10. November 1955 ergangen sind.

Der Bundesfinanzhof hat zu der Frage, welche verfahrensrechtlichen Folgerungen aus der Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung zu ziehen sind, bereits eingehend Stellung genommen (Urteil VI 94/62 S vom 22. Januar 1964, BStBl 1964 III S. 201). Er hat ausgesprochen, ein Bescheid, der eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung enthalte, könne im allgemeinen nicht mehr angefochten werden, wenn seit der Bekanntgabe des Bescheids etwa ein Jahr verstrichen sei. Nach den Umständen des Einzelfalls könne aber eine Abkürzung oder Erweiterung der Frist angebracht sein. Dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sei zwar zuzustimmen, es sei aber darauf hinzuweisen, daß der Mangel der Rechtsmittelbelehrung nicht schwerwiegend sei und eine Irreleitung durch das Finanzamt nicht vorliege. Aus diesem Grund sei es nicht angängig, daß Steuerpflichtige, denen bei Erteilung eines Steuer- oder Abgabebescheides eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt worden sei, auf Jahre zurück ihre längst vergessenen Veranlagungen wieder aufrollen, nachdem sie von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Kenntnis erlangt hätten. Es liege auf der Hand, daß eine solche Handhabung dem Sinn der Rechtskraft Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu schaffen, grob widerspräche. Der infolge einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung entstandene Schwebezustand könne deswegen hinsichtlich des Beginns der Rechtsmittelfrist aus Gründen der Rechtssicherheit nicht ohne zeitliche Begrenzung andauern. Es müsse davon ausgegangen werden, daß das Recht, ein Rechtsmittel auch nach Ablauf der gesetzlich festgelegten Frist noch einzulegen, innerhalb einer angemessenen Frist ausgeübt werden müsse, andernfalls das Anfechtungsrecht verwirkt werde. Da die AO eine solche Frist nicht kenne, sei es zwar nicht möglich, eine feste Frist einzuführen. Es dürfte aber in Anlehnung an die Regelung in § 58 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung, § 21 Abs. 3 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht und § 87 Abs. 5 AO eine Frist von etwa einem Jahr für angemessen angesehen werden. Innerhalb dieser Frist müsse der Steuerpflichtige sein Anfechtungsrecht ausüben. Für die Berechnung des Beginns der Frist sei aber nicht von dem Zeitpunkt auszugehen, in dem der Steuerpflichtige von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Kenntnis erhalten habe.

Nach diesen Grundsätzen ist auch hier zu verfahren. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Abgabepflichtige, der einen Abgabebescheid erhalten hat, in den Fällen, in denen die Rechtslage zweifelhaft ist und erst nach einer Klärung durch die Gerichte erkannt werden kann, was Rechtens ist, mit der Einlegung eines Rechtsmittels nicht warten kann, bis der Zweifel über die Rechtslage beseitigt ist. Er muß, will er eine Klärung herbeiführen, auf die Gefahr hin, in einem Rechtsstreit zu unterliegen, von seinem Anfechtungsrecht innerhalb der ihm zustehenden Rechtsmittelfrist Gebrauch machen. So liegt der Fall auch hier. In dem Vermögensabgabebescheid vom 10. November 1955 wurde der Freibetrag auf Grund des § 29 LAG nur einmal gewährt. Ob im vorliegenden Fall unter Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG nicht ein doppelter Freibetrag verlangt werden konnte, war offen. Diese Frage mußte erst im Rechtsmittelverfahren geklärt und endgültig durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden. Die Frist von etwa einem Jahr war deshalb nicht an das Ergehen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 21. Februar 1961 zu knüpfen, sondern muß schon von dem Zeitpunkt an gerechnet werden, in dem der Abgabepflichtige oder wie im vorliegenden Streitfall seine Rechtsnachfolgerin den Vermögensabgabebescheid erhalten hat. Etwas anderes hätte nicht gegolten, wenn die Rechtsmittelbelehrung in allen Teilen vollständig und richtig gewesen wäre. Auch dann hätte die Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Abgabepflichtigen das ihr zustehende Rechtsmittel innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist einlegen müssen, um nicht Gefahr zu laufen, daß der Bescheid unanfechtbar werden würde. Nur war im vorliegenden Fall wegen der Unvollständigkeit der Rechtsmittelbelehrung zur Einlegung des Rechtsmittels ihr eine Frist von etwa einem Jahr zuzubilligen. Da sie während dieser Zeit kein Rechtsmittel eingelegt hat, ist der Vermögensabgabebescheid vom 10. November 1955 unanfechtbar geworden.

Im Streitfall besteht für eine Verlängerung der Frist von etwa einem Jahr kein Anlaß, da der verstorbene Abgabepflichtige bei der Selbstanzeige und Selbstberechnung der SHA sich als Alleineigentümer des gesamten Vermögens angegeben hat. In der später eingereichten Vermögensabgabeerklärung wurde diese Angabe nicht richtiggestellt. Der verstorbene Abgabepflichtige hat dadurch selbst dazu beigetragen, daß die Kenntnis von der möglichen Fehlerhaftigkeit des Vermögensabgabebescheides vom 10. November 1955 erschwert wurde. Dieser Umstand kann deshalb nicht zugunsten einer Verlängerung der Frist gewertet werden.

Somit muß im Zeitpunkt des Ergehens des Berichtigungsbescheides vom 9. Juni 1960 der ursprüngliche Vermögensabgabebescheid als endgültig und unanfechtbar angesehen werden. Bei der Beurteilung, ob § 251 AO angewendet werden kann, steht somit die Unanfechtbarkeit beider Vermögensabgabebescheide fest. Für eine Aussetzung der Vollziehung mit der Begründung, der Vermögensabgabebescheid vom 9. Juni 1960 werde angefochten, da er noch anfechtbar sei, fehlt die Rechtsgrundlage.

Soweit das Finanzgericht die Anwendung des § 251 AO in Verbindung mit § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG abgelehnt hat, unterliegen seine Ausführungen keinen rechtlichen Bedenken.

Schließlich kann die Bfin. eine Aussetzung der Vollziehung auch nicht dadurch erreichen, daß sie geltend macht, § 55 c LAG sei verfassungswidrig, so daß der ganze Steuerfall von Anfang an aufgerollt werden müsse. Das Finanzgericht hat im Zusammenhang mit § 55 c LAG lediglich darauf hingewiesen, daß die allgemeine Berichtigungsvorschrift des § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO infolge der durch § 55 c LAG geschaffenen Sonderregelung nicht anwendbar sei. Dem ist zuzustimmen. Wird aber entsprechend der von der Bfin. vertretenen Auffassung unterstellt, daß § 55 c LAG nichtig ist, da verfassungswidrig, so könnte auch bei einer solchen Rechtslage die Aussetzung der Vollziehung nicht ermöglicht werden. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Würde demnach § 55 c LAG für nichtig erklärt, so hätte dies nur die Folge, daß von der Herabsetzung der Vierteljahrsbeträge für die Zeit vom 1. April 1061 bis zum 31. März 1979, soweit sie noch nicht durchgeführt oder noch anfechtbar sind, Abstand genommen werden müßte. Da im vorliegenden Fall die Vierteljahrsbeträge unanfechtbar festgesetzt sind und deswegen auch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Februar 1961 (a. a. O.) nicht berührt werden, müßte es bei deren Entrichtung bis zum 31. März 1979 verbleiben. Ob eine Aussetzung der Vollziehung im Zusammenhang mit einem Rechtsmittel, das gegen die Versagung auf Aufdeckung eines Fehlers nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO eingelegt wurde, gewährt werden müßte, braucht hier nicht untersucht zu werden, da ein solcher Fall nicht Gegenstand des Streitverfahrens ist.

Aus den dargelegten Gründen ist der Entscheidung des Finanzgerichts im Ergebnis beizutreten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411340

BStBl III 1964, 594

BFHE 1965, 337

BFHE 80, 337

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