Leitsatz (amtlich)

Das FG versagt das rechtliche Gehör, wenn es vor der vollständigen Ausführung eines Beweisbeschlusses ein Urteil verkündet, ohne die Beteiligten darauf hingewiesen zu haben, daß es die angeordnete Beweisaufnahme (ganz oder teilweise) nicht mehr durchführen werde.

 

Normenkette

GG Art. 103; FGO § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit geht sachlich um die Frage, ob der Revisionsbeklagte (Steuerpflichtiger) die durch Einkaufsquittungen belegten erheblichen Benzinmengen, welche er nicht als Treibstoff seiner beiden Betriebsfahrzeuge verbraucht haben konnte, zur Reinigung der von ihm hergestellten Produkte verwendet hat. Das FG hatte in einem Beweisbeschluß die Vernehmung von drei Personen angeordnet, die darüber vernommen werden sollten, welche Benzinmengen in den Jahren 1957 bis 1961 in der gewerblichen Produktion zum Reinigen verwandt worden seien und wie diese Reinigung vor sich gegangen sei.

Nachdem zwei Zeugen ihre Aussage gemacht hatten, fand eine mündliche Verhandlung statt. In diesem Termin verkündete das FG das Urteil, mit dem es den Abzug der Aufwendungen für die streitigen Benzinmengen als Betriebsausgaben zugelassen hat.

Mit der Revision rügt der Revisionskläger (das FA) Verletzung des rechtlichen Gehörs, mangelnde Sachaufklärung und unzulässige Vorwegnahme einer Beweiswürdigung sowie die Verletzung der Regeln über den Beweis des ersten Anscheins durch die in der Vorentscheidung vorgenommene Beweiswürdigung. Das FA beantragt die Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage; hilfsweise beantragt es, den Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen.

Der Steuerpflichtige beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Das FA rügt zu Recht, daß ihm das rechtliche Gehör versagt worden sei (Art. 103 GG). Durch einen Beweisbeschluß entsteht eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozeßführung einrichten dürfen. So berechtigt sie das Verhalten des Gerichts insbesondere dazu, bei ihren Erklärungen zum Sachverhalt oder bei einem Verzicht auf eine Stellungnahme dazu stillschweigend davon auszugehen, daß kein Urteil ergehen werde, bevor nicht der Beweisbeschluß durchgeführt sei. Andererseits ist ein Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen (Urteil des BVerwG IV C 153/64 vom 6. November 1964, NJW 1965, 413; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 82 FGO Anm. 4 mit weiteren Rechtsprechungshinweisen). Um eine Überraschungsentscheidung zu vermeiden, muß es jedoch vor Erlaß des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluß geschaffene Prozeßlage wieder beseitigen und den Beteiligten die Möglichkeit geben, unbeeinflußt von der Erwartung, es werde noch Beweis erhoben, zum Sach- und Streitstand Stellung zu nehmen. Denn sonst verhindert es, daß sich die Prozeßbeteiligten in zutreffender Weise zu den dem Urteil zugrunde zu legenden Tatsachen und Beweisergebnissen (§ 96 Abs. 2 FGO) äußern können, und versagt ihnen dadurch das rechtliche Gehör.

Im Streitfall kann den Akten des FG kein Hinweis entnommen werden, daß dieses den Beteiligten das Unterbleiben der Vernehmung des dritten Zeugen mitgeteilt habe. Insbesondere enthält die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, auf welche das angefochtene Urteil erging, keinen Anhaltspunkt dafür, daß das FG den Beteiligten vor Verkündung der Entscheidung zu erkennen gegeben habe, es werde ohne Vernehmung des dritten Zeugen ein Urteil fällen. Der Senat hat daher keine Zweifel an der Richtigkeit der mit der Revisionsbegründung aufgestellten und vom Steuerpflichtigen nicht bestrittenen Behauptungen, daß das FA durch die Entscheidung überrascht worden sei und eine Stellungnahme zur Nichtanhörung des dritten Zeugen nicht habe abgeben können. Daraus folgt, daß das FG dem FA das rechtliche Gehör versagt hat. Dieser Verfahrensfehler führt nach § 119 Nr. 3 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung. Auf die übrigen Revisionsrügen braucht der Senat daher nicht mehr einzugehen.

 

Fundstellen

BStBl II 1972, 20

BFHE 1972, 137

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