Entscheidungsstichwort (Thema)

Zollrecht Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Inanspruchnahme des Begleitscheinnehmers als Haftenden nach § 89 Abs. 2 ZG ist nicht schon deshalb unbillig, weil das nicht wiedergestellte Begleitscheingut in einem endgültigen Zollverfahren hätte zollfrei geschrieben werden können.

 

Normenkette

ZG § 89 Abs. 2; AO § 131

 

Tatbestand

I. -

Die von der Bgin. beauftragte Spedition in X. unterließ im März 1956 versehentlich die fristgerechte Wiedergestellung von 6 Kartons mit Kunstdärmen, die im Zollanweisungsverfahren auf Antrag der Bgin. vom Zollamt Y. an das Zollamt M. in X. überwiesen worden waren, und ließ das Zollgut durch einen von ihr beauftragten Fuhrunternehmer unmittelbar an die Empfangsfirma ausliefern. Nach Aufdeckung des Sachverhalts wurde die Ware bei der Empfangsfirma wieder abgeholt und nach Ablauf der Wiedergestellungsfrist am 10. April 1956 dem Zollamt S. in X. vorgeführt.

Obwohl die Wiedergestellung verspätet war und die Zollplomben von unbekannter Hand bereits abgelöst waren, schrieb das Zollamt die Kunstdärme als Rückware antragsgemäß zollfrei, da es hinsichtlich der Nämlichkeit und der Rückwareneigenschaft keine Bedenken hatte. Auf Weisung des Hauptzollamts nahm das Zollamt jedoch mit Steuerhaftungsbescheid vom 11. August 1956 die Bgin. in Höhe von insgesamt 540,85 DM als Begleitscheinnehmerin aus ihrer Haftung nach § 89 Abs. 2 des Zollgesetzes (ZG) in Anspruch. Der Einspruch der Bgin. wurde als unbegründet zurückgewiesen. Ihre Berufung nahm die Bgin. mit Schreiben vom 20. November 1956 zurück. Der Steuerhaftungsbescheid ist damit rechtskräftig.

Nunmehr beantragte die Bgin. die Erstattung der Abgaben aus Billigkeitsgründen. Die Oberfinanzdirektion lehnte einen Billigkeitserlaß mit Verfügung vom 29. April 1957 ab. Hiergegen legte die Bgin. Beschwerde ein. Sie stützte sich vor allem darauf, daß kein Zollschuldner vorhanden sei, da es sich um eine Rückware gehandelt habe; mangels eines Zollschuldners sei kein Raum für ihre Haftung als Zollbegleitscheinnehmer.

Mit Beschwerdeentscheidung vom 16. Juli 1958 wies der Bundesminister der Finanzen das Rechtsmittel als unbegründet zurück.

Die Berufung hatte Erfolg. Das Finanzgericht ging davon aus, der Bundesfinanzhof habe in seinem auch von der Bgin. erwähnten, amtlich nicht veröffentlichten Urteil V z 79/57 vom 8. August 1957 (abgedruckt in der Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1957 S. 312 ff.) in einem wesentlich gleichgelagerten Fall die Ansicht vertreten, daß ein Billigkeitserlaß aus sachlichen Gründen nicht versagt werden könne, wenn feststehe, daß eine im Zollanweisungsverfahren nicht ordnungsmäßig wiedergestellte Ware in einem endgültigen Zollverfahren als Rückware zollfrei geschrieben worden wäre. Es würde auch nach Meinung des Finanzgerichts eine Unbilligkeit darstellen, in einem solchen Falle den Begleitscheinnehmer mit Abgaben zu belasten, die bei normalem Verlauf der Dinge nicht erhoben worden wären.

Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Rb. legt der Bundesminister der Finanzen seine in der Beschwerdeentscheidung entwickelte Auffassung in erweiterter Form nochmals wie folgt dar. Die Haftung des Begleitscheinnehmers verfolge den selbständigen Zweck, die ordnungsmäßige Wiedergestellung des Zollguts zu sichern. Sie sei erforderlich, weil die Zollstelle das Zollgut aus der Hand gebe, bevor sie festgestellt habe, ob es sich um zollbares Zollgut handele und ob Zoll zu erheben sein werde. Der Umstand, daß nach einer solchen Wiedergestellung das Zollgut hätte abgabenfrei gelassen werden können, begründe für sich allein eine sachliche Billigkeitsmaßnahme nicht. Eine Lücke des ZG, die in Fällen der zur Entscheidung stehenden Art eine vom eindeutigen Wortsinn des § 89 ZG abweichende Regelung rechtfertigen würde, liege nicht vor. Jedoch sei in jahrzehntelanger Praxis ein entschuldbares Versehen des Begleitscheinnehmers oder der Person, deren er sich zur Beförderung des Zollguts bedient, als Billigkeitsgrund dann anerkannt worden, wenn für das Zollgut nach Wiedergestellung Zollfreischreibung in Betracht gekommen wäre. Im Streitfalle seien keine Gründe erkennbar, die das Versehen der Speditionsfirma in X. entschuldbar erscheinen ließen.

 

Entscheidungsgründe

II. -

Die Rb. hat Erfolg. Streit besteht über einen Abgabenerlaß aus Billigkeitsgründen nach § 131 AO, dessen Zubilligung im Ermessen der Finanzverwaltungsbehörden liegt. Ermessensentscheidungen der Finanzverwaltungsbehörden unterliegen der Nachprüfung durch die Steuergerichte im erweiterten Rechtsmittelweg nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) nur hinsichtlich der Frage, ob die Ermessensgrenzen von Recht und Billigkeit von den Finanzverwaltungsbehörden beachtet sind. Eine Ermessensüberschreitung liegt dann vor, wenn die von der Verwaltung getroffene Entscheidung unter Berücksichtigung und Abwägung der Belange der öffentlichen Hand und des Steuerpflichtigen nach allgemeiner Auffassung mit den Grundsätzen von Recht und Billigkeit unvereinbar ist (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, vgl. Urteil VII 185/57 U vom 28. Oktober 1958, BStBl 1959 III S. 11, Bundeszollblatt - BZBl - 1959 S. 51, Slg. Bd. 68 S. 27).

Die Vorinstanz ist zu dem Ergebnis gelangt, daß ein Billigkeitserlaß aus sachlichen Gründen nicht versagt werden könne, wenn feststehe, daß eine im Zollanweisungsverfahren nicht ordnungsmäßig wiedergestellte Ware in einem endgültigen Zollverfahren als Rückware zollfrei geschrieben worden wäre. Diese Rechtsansicht verkennt den Unterschied und die Zäsur zwischen dem Zollanweisungsverfahren und dem endgültigen Zollverfahren. Das Zollanweisungsverfahren soll ermöglichen und sicherstellen, daß Zollgut bei einer befugten Zollstelle des Zollgebiets wiedergestellt werden kann und wiedergestellt wird (§§ 88 Abs. 1, 89 Abs. 3 ZG). Es ist kein endgültiges, auf die Entscheidung über eine Zollschuld ausgerichtetes Zollverfahren, sondern ein vorläufiges Zollverfahren, in welchem es nicht zur Entstehung einer Zollschuld kommen soll. Die Haftung des Begleitscheinnehmers aus § 89 Abs. 2 ZG ist ein Mittel zur Sicherung der Wiedergestellung der Ware; deshalb erlischt diese Haftung mit der ordnungsmäßigen Wiedergestellung, weil die Zollbehörde nunmehr die unmittelbare Verfügung über das Zollgut zurückerlangt. Die Haftung bezweckt dagegen nicht die Sicherung der Einbringung einer bestimmten Abgabenschuld. Denn einmal steht bei der Abfertigung des Zollguts zum Zollanweisungsverfahren noch gar nicht fest, ob eine Zollschuld überhaupt entstehen wird, und zum anderen ergibt sich die obige Folgerung über den Zweck der Haftung daraus, daß der Begleitscheinnehmer, soweit eine geldliche Haftung in Betracht kommt, unabhängig von der im konkreten Falle möglichen Abgabenbelastung der Ware für den Zoll nach der höchsten in Betracht kommenden Zollbelastung haftet (ß 89 Abs. 2 ZG).

Die Haftung sichert primär und ihrem eigentlichen Wesen nach die Wiedergestellung des Zollguts. Nachdem eine Ware vorschriftswidrig aus dem Zollanweisungsverfahren in die Hände des Empfängers gelangt ist, kann ein ordnungsmäßiges endgültiges Zollverfahren nicht mehr stattfinden, da dieses mit seinen Wirkungen erst dann hätte beantragt und durchgeführt werden können, wenn das Gut wiedergestellt worden wäre. Daraus ergibt sich, daß die Abwicklung eines nachträglich herbeigeführten endgültigen Zollverfahrens, gleichviel, ob es zur Verzollung oder zur Zollfreischreibung führt, auf die Frage der Haftung im Zollanweisungsverfahren keinen Einfluß haben kann. Es ist für diese Haftung unwesentlich, ob es sich um eine Ware handelte, die später zollfrei geschrieben werden könnte.

Die Zwecke des Zollbindungsverfahrens und des endgültigen Zollverfahrens sind voneinander so sehr geschieden, daß es nicht möglich ist, mit dem Finanzgericht anzunehmen, die Haftung des Begleitscheinnehmers verliere dann ihren Sinn, wenn feststehe, daß eine abgabenbefreite Ware Gegenstand des Zollverkehrs war. Die Ware ist eben, solange das Zollanweisungsverfahren mangels Wiedergestellung nicht abgeschlossen ist, noch nicht abgabenbefreit.

Die gesetzliche Haftung des Begleitscheinnehmers nach § 89 Abs. 2 ZG weist keine unangemessene überdehnung auf, die einer Korrektur durch Anerkennung sachlicher Billigkeitstatbestände bedürfte (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs V z 181/57 U vom 27. März 1958, BStBl 1958 III S. 248, BZBl 1958 S. 446, Slg. Bd. 66 S. 647). Das dem Begleitscheinnehmer durch das Gesetz gewährte Entgegenkommen, die weitere Abfertigung des Zollguts mittels des Zollanweisungsverfahrens an eine andere befugte Zollstelle des Zollgebiets zu verlegen, und der damit verbundene Verzicht auf den Zollgewahrsam bewirken während der Beförderung des Zollguts ein erhöhtes Risiko für die Durchführung der Zollaufgaben, das durch die gewählte Form der Haftung ausgeglichen werden muß. Außerdem ist die Regelung der Haftung durch den unbedenklichen praktischen Zweck gerechtfertigt, bei Entstehung einer Zollschuld durch vorschriftswidrige Verfügung über Begleitscheingut, wie im vorliegenden Fall, den haftenden Begleitscheinnehmer in Anspruch zu nehmen und den Zollbehörden Nachforschungen über die Person dessen, der über die Ware vorschriftswidrig verfügt hat und damit Zollschuldner geworden ist, zu ersparen, die zu Lasten der Allgemeinheit gehen würden (vgl. auch § 53 Abs. 2 der Zollanweisungsordnung). Sonach kann die aus dem möglichen Ausgang des endgültigen Zollverfahrens abgeleitete Erwägung, daß die Ware nachträglich zollfrei geschrieben worden wäre, allein eine Billigkeitsmaßnahme gegenüber dem Begleitscheinnehmer nicht rechtfertigen.

Nur im Ablauf des Zollanweisungsverfahrens selbst aufgetretene Umstände vermögen eine Billigkeitsmaßnahme zugunsten des Begleitscheinnehmers zu tragen und erst dann, wenn diese Voraussetzung zu bejahen ist, kann unter Umständen die Frage, daß für die Ware später eine Zollfreischreibung in Betracht gekommen wäre, eine Rolle spielen.

Auf die Frage des Versehens ist das Finanzgericht in Verkennung der Rechtslage nicht mehr eingegangen. Da seine Entscheidung hiernach aufgehoben werden muß, vermag der Senat die spruchreife Sache selbst zu entscheiden. Die Bgin. hat für ein zu vertretendes Versehen der als Warenführer tätigen Speditionsfirma einzustehen. Diese ist als Spedition regelmäßig mit Zollangelegenheiten befaßt und mit den hierbei entstehenden Aufgaben und Verpflichtungen vertraut und muß für entsprechende Vorkehrungen Sorge tragen. Wenn der Bundesminister der Finanzen bei dieser Sachlage die Gründe, die zur vorschriftswidrigen Verfügung über die Ware bzw. zur nicht rechtzeitigen Wiedergestellung geführt haben, als nicht entschuldbares Versehen betrachtet hat, so ist darin ein Ermessensverstoß nicht zu erblicken. Der erkennende Senat kommt daher zu dem Ergebnis, daß die Ablehnung des Abgabenerlasses aus Billigkeitsgründen innerhalb der der Zollverwaltung durch Recht und Billigkeit gezogenen Ermessensgrenzen vertretbar war und daß die Beschwerdeentscheidung des Bundesministers der Finanzen aufrechtzuerhalten ist. An dem mit der hierdurch getroffenen Entscheidung im Widerspruch stehenden oben erwähnten Urteil des damals für Zölle und Verbrauchsteuern zuständigen V. Senats vom 8. August 1957 wird nicht mehr festgehalten.

Demgemäß war die Vorentscheidung aufzuheben und die Berufung der Bgin. gegen die Beschwerdeentscheidung des Bundesministers der Finanzen als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409615

BStBl III 1960, 184

BFHE 1960, 492

BFHE 70, 492

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