Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Erkennbarkeit des Irrtums bei der Nacherhebung von Zoll

 

Leitsatz (NV)

1. Die drei in der Rechtsprechung des EuGH namentlich bezeichneten Kriterien für die Beurteilung der Erkennbarkeit eines behördlichen Irrtums (Art des Irrtums, Erfahrung und Sorgfalt des Wirtschaftsteilnehmers) sind nicht abschließend; entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung aller hierfür relevanten Umstände, wobei auch der Inhalt der drei vorgegebenen Kriterien einer Interpretation durch die Gerichte zugänglich ist.

2. Die Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte im Einzelfall liegt im Bereich der dem FG übertragenen Anwendung bestehender Rechtsgrundsätze auf den konkreten zur Entscheidung stehenden Sachverhalt, der regelmäßig grundsätzliche Bedeutung nicht zukommen kann.

3. Wird einem Antrag des Zollbeteiligten auf Erstattung von Zoll (Herabsetzung des Zollwerts) in einem förmlichen Erstattungsverfahren entsprochen und war zu diesem Zeitpunkt die Rechtslage höchstrichterlich noch nicht eindeutig geklärt, kann vom Zollbeteiligten nicht verlangt werden, daß er im Rahmen der Erfüllung seiner Sorgfaltspflichten die behördliche Entscheidung noch einmal anhand der geltenden Rechtsvorschriften einer Überprüfung unterzieht.

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1; NacherhebungsVO Art. 5 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Hauptzollamt - HZA -) forderte mit Steueränderungsbescheiden Zoll in Höhe von ... DM von der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) nach. Diesen Betrag hatte das HZA der Klägerin zuvor erstattet, weil es die Zollwerte von acht im Jahre 1981 aus der Schweiz eingeführten Sendungen Unterhaltungselektronik antragsgemäß herabgesetzt hatte. Dabei ging das HZA irrtümlich davon aus, daß aufgrund der im Juni 1981 in Kraft getretenen Änderung des Art. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 1495/80 (EinzelfallVO) die durch Einkaufsrechnungen des ausländischen Vorerwerbers belegten Vorerwerberpreise auch noch nachträglich, d.h. nach Freigabe der Waren, als Grundlage für die Ermittlung der Zollwerte der eingeführten Waren anerkannt werden und an die Stelle der der Klägerin von ihrer Lieferfirma in Rechnung gestellten und ursprünglich angemeldeten - höheren - Preise treten könnten.

Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit der Begründung statt, die Nacherhebung des vorher erstatteten Zolls sei nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 (NacherhebungsVO) ausgeschlossen. Der Irrtum des HZA, trotz Freigabe der Waren eine nachträgliche Änderung der Zollwertanmeldung zuzulassen, sei für die Klägerin unter Berücksichtigung ihrer Erfahrung und Sorgfalt nicht erkennbar gewesen. Zwar sei sie gewerbsmäßig zu einem erheblichen Umfang im Einfuhrgeschäft tätig gewesen und habe infolgedessen über Erfahrungen in diesem Geschäft verfügt; die Frage einer nachträglichen Änderung der Zollwertanmeldung habe jedoch für sie ein Novum dargestellt, mit dem sie sich in den vergangenen Jahren noch nicht befaßt hätte. Die Klägerin habe auch keine Zweifel an der Richtigkeit der behördlichen Maßnahme haben müssen, da der Behörde der Rechtsirrtum in einem Erstattungsverfahren, das notwendig die Überprüfung einer vorangegangenen Abgabenfestsetzung enthalte, unterlaufen sei. Es sei daher für die Klägerin unzumutbar gewesen, sich nach der Durchfüh- rung eines besonderen Erstattungsverfahrens an weiterer Stelle über die Rechtmäßigkeit der Erstattung zu vergewissern. Außerdem sei es zum damaligen Zeitpunkt durchaus zweifelhaft gewesen, ob der Zollbeteiligte seine Zollwertanmeldung nach Freigabe der Ware nicht doch noch unter Darlegung ihm günstiger objektiv feststehender Umstände hätte ändern können.

Mit seiner Beschwerde begehrt das HZA die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

 

Entscheidungsgründe

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Es kann dahinstehen, ob das HZA die grundsätzliche Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfragen, vor allem was das Interesse der Gesamtheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts betrifft, hinreichend dargelegt hat (vgl. § 115 Abs. 2 Satz 3 FGO), denn jedenfalls sind diese Rechtsfragen nicht von grundsätzlicher Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

1. Soweit das HZA hinsichtlich der im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 NacherhebungsVO zu prüfenden Erkennbarkeit des behördlichen Irrtums für den Zollbeteiligten dessen allgemeine Erfahrung mit Einfuhrgeschäften und Zollformalitäten als ausreichende Grundlage für die Annahme der Erkennbarkeit angesehen wissen möchte, fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage.

Die einschlägige Rechtsprechung des EuGH (vgl. das auf den Vorlagebeschluß des Senats vom 24. Januar 1989 VII R 65/86, BFHE 156, 294, ergangene Urteil des EuGH vom 26. Juni 1990 Rs. C-64/89, EuGHE 1990, I-2551), der der Senat folgt (vgl. auch Urteil vom 2. Mai 1991 VII R 117/89, BFH/NV 1992, 420), fordert für die Entscheidung, ob der Irrtum für den betroffenen Wirtschaftsteilnehmer erkennbar i.S. des Art. 5 Abs. 2 NacherhebungsVO war, eine konkrete Beurteilung aller Umstände des Einzelfalles, wobei namentlich die Art des Irrtums, die Erfahrung und die Sorgfalt des Wirtschaftsteilnehmers zu berücksichtigen sind. Davon geht auch die Vorentscheidung aus.

Damit wird eine konkrete Gesamtbetrachtung aller für die Frage der Erkennbarkeit des Irrtums relevanten Umstände des Falles gefordert. Dabei ist die Bezeichnung der drei Kriterien vom EuGH erkennbar nicht abschließend (namentlich). Es dürfen auch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Auch der Inhalt der drei namentlich bezeichneten Kriterien liegt nicht fest und ist einer Interpretation zugänglich. Die vom EuGH genannten Kriterien sind insoweit zwar als Maßstäbe der Prüfung zu berücksichtigen, fraglos aber nicht als abschließende Bestimmung der Erkennbarkeitsvoraussetzungen. Wenn also hinsichtlich der Erfahrung des Wirtschaftsteilnehmers zu untersuchen ist, ob er gewerbsmäßig im wesentlichen im Einfuhr- und Ausfuhrgeschäft tätig ist und ob er bereits über eine gewisse Erfahrung imHandel mit den betreffenden Waren verfügt, insbesondere ob er in der Vergangenheit Geschäfte dieser Art durchgeführt hat, für die die Zölle richtig berechnet wurden (Abs. 21 des genannten EuGH-Urteils), so umschreibt dies lediglich die typischen Prüfungspunkte beim Kriterium Erfahrung als Merkmal der Erkennbarkeit, schließt aber erkennbar nicht aus, daß über diese allgemeine Erfahrung hinaus auch etwaige besondere Erfahrungen des Wirtschaftsteilnehmers gerade mit der speziellen Rechtsfrage, auf die es in concreto ankommt, berücksichtigt werden können. Schlösse man dies aus, liefe man vielmehr Gefahr, im Einzelfall dem Erfordernis der Gesamtbetrachtung aller Umstände des Falles nicht gerecht zu werden.

Die Berücksichtigung der aufgezeigten Gesichtspunkte im Einzelfall liegt im Bereich der dem FG übertragenen Anwendung (s. auch Abs. 23 des genannten EuGH-Urteils) bestehender Rechtsgrundsätze auf den konkreten zur Entscheidung stehenden Sachverhalt, der regelmäßig grundsätzliche Bedeutung nicht zukommen kann (Senat, Beschluß vom 17. September 1974 VII B 112/73, BFHE 113, 409, BStBl II 1975, 196; ständige Rechtsprechung). So ist es Aufgabe des FG zu entscheiden, ob die mangelnde Erfahrung des Wirtschaftsbeteiligten hinsichtlich der speziellen einschlägigen Rechtsfrage nach den gesamten Umständen des Einzelfalles stärker zu gewichten ist als dessen vorhandene allgemeine Erfahrung in Zollsachen und ihr ggf. sogar, wie es das FG im Streitfall für angebracht hielt, der Vorrang einzuräumen ist. Diese Beurteilung der Umstände des Falles durch das FG kann nicht mit einer Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung angegriffen werden.

Anders könnte es zwar sein, wenn das FG im Streitfall davon ausgegangen wäre, daß die Erfahrung des Abgabenschuldners stets zu verneinen sei, wenn der Verwaltung der Nachweis nicht gelinge, daß der Abgabenschuldner bereits einschlägige Erfahrungen mit der streitigen Rechtsfrage gehabt habe. Ein derartiger Grundsatz wäre mit der gebotenen Beurteilung aller Umstände des Einzelfalles nicht zu vereinbaren. Entgegen der Ansicht des HZA hat das FG aber einen solchen Grundsatz nicht aufgestellt; es hat sich ersichtlich auf die Entscheidung des konkreten Falles beschränkt.

2. Die zweite vom HZA aufgeworfene Rechtsfrage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung wäre in einem etwa zuzulassenden Revisionsverfahren nicht klärungsfähig.

Das FG hat nicht, wie vom HZA behauptet, entschieden, daß eine Nachprüfungspflicht seitens des Beteiligten immer dann entfällt, wenn er einen irrtumsbedingten Antrag gestellt hat und diesem vom HZA trotz eindeutig entgegenstehender Rechtslage stattgegeben worden ist.

Die tragenden Gründe, weshalb das FG im Streitfall ausnahmsweise auf die sonst dem Wirtschaftsbeteiligten im Rahmen der Erfüllung seiner erforderlichen Sorgfaltspflichten abzuverlangenden Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Entscheidung anhand der geltenden Rechtsvorschriften verzichten zu können geglaubt hat, sind von anderer Qualität. Zum einen ist dem Antrag der Klägerin in einem förmlichen Erstattungsverfahren, das notwendig die gesamte Überprüfung der Abgabenfestsetzung anhand des einschlägigen Gemeinschaftsrechts voraussetzte, stattgegeben worden. Zum anderen war die Rechtslage zum damaligen Zeitpunkt durchaus noch nicht eindeutig geklärt. Immerhin hat es einer Entscheidung des EuGH bedurft (Urteil vom 6. Juni 1990 Rs. C-11/89, EuGHE 1990, I-2275), die maßgebliche Rechtsvorschrift des Gemeinschaftsrechts (Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 79/695/EWG Freier Verkehr) ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen und die in der deutschen Finanzrechtsprechung umstrittene Frage, ob die Bindungswirkung der Zollanmeldung materielles Berichtigungsvorbringen, wozu auch die nachträgliche Anmeldung eines anderen als des ursprünglich angemeldeten Kaufpreises gerechnet wurde, ausschließt (vgl. z.B. - verneinend - FG Hamburg, Beschluß vom 5. November 1985 IV 266/85 N, Entscheidungen der Finanzgerichte 1986, 150; bejahend - nach nationalem Recht des § 11 Abs. 3 des Zollgesetzes - Senat, Vorlagebeschluß vom 6. Dezember 1988 VII R 119/87, BFH/NV 1989, 407), endgültig im Sinne einer mit der Freigabe der Waren eintretenden Bindungswirkung der ursprünglich abgegebenen Zollwertanmeldung und des darin bezeichneten, die Anforderungen des Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1224/80 i.V.m. Art. 6 der EinzelfallVO erfüllenden Kaufpreises zu klären.

 

Fundstellen

BFH/NV 1994, 65

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